Auf ein Wort,
„Ich habe den modernen Tanz zu meinem Leben gemacht.“
Eva Lajko
Tänzerin, Choreografin und Pädagogin
Eva Lajko ist Tänzerin, Choreografin und Pädagogin und arbeitet in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Im Interview beschreibt sie die historische Entwicklung des modernen Tanzes, erklärt, welche Bedeutung diese Kulturform für die Gesellschaft hat, wie sie ihr Können weitergibt und auf welche Schwierigkeiten sie und andere Tänzer dabei treffen.
Frau Lajko, wie kamen Sie zum modernen Tanz?
Als Kind habe ich Ballett getanzt. Über eine Freundin kam ich dann zum Ausdruckstanz. Einschneidend für mich war die Teilnahme an einem Workshop von Rosalia Chladek, einer der bedeutendsten Wegbereiterinnen des Freien Tanzes im 20. Jahrhundert in Europa. Das hat bei mir so viel bewegt, dass ich zunächst mit 21 Jahren ein Ergänzungsstudium zu meinem Psychologie- und Musik-Studium aufnahm und schließlich mit 26 die Vollausbildung am Konservatorium Wien absolvierte. Das war damals "Alles oder Nichts": Ich habe gesagt, wenn die mich am Konservatorium nehmen, dann höre ich mit allem, was ich bisher gemacht habe, auf und mache das. Ich habe den modernen Tanz zu meinem Leben gemacht.
Welche gesellschaftliche Wirkung hatte und hat das Kulturerbe moderner Tanz?
Die Kulturform des modernen Tanzes ist in den goldenen Zwanzigerjahren in Deutschland entstanden: Die vorherrschende tänzerische Kunstform war damals das Ballett. Pionierinnen, fast alles Frauen, haben sich mit dieser zunächst "Freier Tanz" genannten Kunst von einem männergeprägten Frauenbild der feenhaften Wesen im Tütü befreien wollen. Sie wollten ihren eigenen Ausdruck im Tanz auf die Bühne bringen. Es gab dafür keine eigene Technik. Es ging nur darum, Freiheit im Ausdruck zu finden. Das war auch eine komplette ästhetische Neuentwicklung.
Als im Zuge des Nationalsozialismus viele Vertreter nach Amerika flüchten mussten, entwickelte sich die Kulturform dort weiter und kam als "Modern Dance" nach dem Krieg zurück nach Europa. Das hat sich dann Richtung Tanztheater bis heute weiterentwickelt hin zum zeitgenössischen Tanz mit der Vermischung verschiedener Tanzstile.
Für die Entwicklung der Kulturform ist der jeweilige politisch-historisch-gesellschaftliche Kontext natürlich wichtig. Das tänzerische Individuum begibt sich immer in ein Verhältnis zu seiner Umwelt. Heute ist etwa deutlich zu beobachten, dass der zeitgenössische Tanz in seiner Bewegungssprache der Sprache der modernen Medien Rechnung trägt. Das sieht dann natürlich ganz anders aus als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Kulturtalente
Kulturtalente in ganz Deutschland prägen und gestalten das Immaterielle Kulturerbe. Sie erhalten kulturelle Traditionen durch Anwendung und Weitergabe ihres Wissens und Könnens. Die Deutsche UNESCO-Kommission stellte von Juli 2016 bis Juli 2017 12 Kulturtalente vor und zeigt, wie sie das Immaterielle Kulturerbe hierzulande kreativ weiterentwickeln. Eva Lajko ist das Kulturtalent des Monats Juli 2016.
Was ist für Sie das Besondere am modernen Tanz?
Der moderne Tanz rückt den Menschen und seine Gestaltungskraft in den Mittelpunkt: weg von der reinen Beherrschung des Körpers, hin zur Entfaltung der künstlerischen Persönlichkeit. In meinem künstlerischen Schaffen hat mich diese Kulturform zu meinem eigenen künstlerischen Ausdruck gebracht. Das prägt auch meinen Unterricht: Es freut mich, die Menschen, die ich unterrichte, zu sich, also zu ihrem authentischen körperlichen Bewegungsausdruck, zu führen.
Es geht beim modernen Tanz um eine besondere Körperwahrnehmung. Wir bringen die Menschen zum Verstehen der eigenen Bewegungen beziehungsweise der anatomischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Kern der Tradition ist also eine Bewusstwerdung von Körperwissen, das grundsätzlich im menschlichen Körper existiert. Das Wesen des Tanzenden steht dabei im Vordergrund. Er erforscht und erfährt beim modernen Tanz seine Bewegungsfunktionen. Und das Spannende ist: Schon im Prozess des Erlernens legen wir das kreative Potenzial der Schüler frei. Denn es geht nicht darum, dass sie etwas nachbilden, was der Lehrer vorgibt, sondern sie schaffen es mit dem eigenen Körper neu. Der Körper ist also das Ausdrucksinstrument. Mit diesem kann ich frei umgehen – das lehrt uns der moderne Tanz.
Wie geben Sie persönlich das Wissen und Können der Kulturform an andere weiter?
Ich arbeite in Kindergärten, wo ich elementaren Ausdruck, Bewegungen und Tanz in Verbindung mit Musik vermittle. Auch bin ich schon lange in Schulen, vor allem Grundschulen tätig, wo ich mit den Kindern Tanztheater-Projekte auf die Beine stelle. Ich habe zudem ein Studio, in dem ich Erwachsene von 18 bis 70 Jahren – ja, so alt ist meine älteste Schülerin – im Laienbereich unterrichte. Dazu kommt die berufsbegleitende Ausbildung, bei der ich Menschen in der Schweiz, in Österreich und Deutschland in Bewegungs- und Tanzpädagogik ausbilde. Und schließlich gibt es meine künstlerische Tätigkeit: Ich arbeite fest mit einem Schauspieler zusammen und wir suchen uns für einzelne Projekte immer wieder verschiedene weitere Künstler, zum Beispiel Videokünstler, Jazz- und südamerikanische Musiker. Wir nennen das "Musiktanztheater". Hier verarbeiten wir gesellschaftlich relevante, nicht immer bequeme Themen wie etwa sexuellen Missbrauch.
Ich habe den modernen Tanz zu meinem Leben gemacht.
Moderner Tanz als Immaterielles Kulturerbe
Eva Lajko gehört als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Rosalia Chladek in Deutschland (ARC/D) zu den Initiatoren der 2014 erfolgreichen Eintragung von "Moderner Tanz – Stilformen und Vermittlungsformen der Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung" in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes.
Das aktive breitenkulturelle Tanzengagement und die Tanzvermittlungsangebote im modernen expressiven Tanz umfassen Zielgruppen in allen Altersbereichen – auch im integrativen Sinne des Community Dance-Gedankens – und zahlreiche Tanzprojekte der kulturell-ästhetischen Bildung.
Wie erhält man das Kulturerbe moderner Tanz beziehungsweise das Wissen und Können darum am effektivsten?
Hauptfaktor ist die pädagogische Vermittlung in Ausbildungen und Kursen. Es gibt sowohl berufsbegleitende Ausbildungen und Vollstudienangebote als auch einzelne Kurse. Eine Dokumentation per Video, selbst in 3D, kann immer nur ein Hilfsmittel zum Erlernen sein. Der Prozess des eigenen körperlichen Erlernens der Ausdrucksformen des modernen Tanzes kann durch nichts ersetzt werden. Ein Medium kann mir die körperliche Erfahrung nicht geben! Dieser Prozess darf nicht verloren gehen.
Die Initiative "Tanzfonds Erbe" hat durch die Dokumentation der Historie des modernen Tanzes in den Blickpunkt gerückt, was dieser gesellschaftlich geleistet und uns als Erbe hinterlassen hat. Das ist ihre große Stärke. Ich würde mir in der Weiterentwicklung aber wünschen, dass das lebendige Wissen noch stärker im Vordergrund steht. Bisher blickt man zu viel zurück auf die großen Meisterwerke des Tanzerbes. Toll wäre eine strukturelle Verknüpfung der künstlerischen Projekte mit den Ausbildungsstätten und -instituten, die dieses Erbe ja maßgeblich weitergeben, etwa der Folkwang-Schule in Essen oder der Kölner Sporthochschule. Aber gerade auch die berufsbegleitenden Ausbildungen, die dieses Erbe weitertragen, brauchen Verknüpfung und Förderung, wie zum Beispiel die berufsbegleitende Ausbildung im Chladek®-System. Neben dem Konservatorium in Wien ist dies der einzige Weg, in der das Chladek®-System noch in einer zeitgenössischen Form vermittelt wird. Die berufsbegleitenden Ausbildungen müssen gerade stark ihre Daseinsberechtigung verteidigen und um ihr Überleben kämpfen.
Nicht nur rein künstlerische Projekte sollten also gefördert werden, sondern Querverbindungen zur Weitervermittlung des Erbes. Für die sogenannte Freie Szene, wo der moderne Tanz entstanden ist und wo er sich auch heute weiterentwickelt, von der also die Innovationen ausgehen, wünsche ich mir mehr finanzielle Förderung – gerade um die Kooperationen mit Ausbildungsstätten und Künstlerpersönlichkeiten zu stärken. Da braucht es vielleicht neue Formate.
Der moderne Tanz rückt den Menschen und seine Gestaltungskraft in den Mittelpunkt.
Ist die Weitergabe des modernen Tanzes denn gefährdet?
In der Laienausbildung sind die Teilnehmerzahlen rückläufig. Die Schnelllebigkeit der Medien spielt hier meiner Meinung nach eine Rolle. Gleichzeitig beobachte ich aber auch eine Sehnsucht nach einer Rückbesinnung auf den Körper, weil die Menschen merken, dass ihnen in dieser Schnelllebigkeit etwas verloren geht. Das ist beim Yoga schon beobachtbar. Der moderne Tanz hat auch das Potenzial, den Prozess des Spürens des eigenen Körpers zu unterstützen, wie beispielsweise im Yoga, fördert aber darüber hinaus auch noch die Entfaltung von Kreativität und Ausdruck.
Im pädagogischen, berufsbegleitenden Bereich ist die Weitergabe der Kulturform durch Kurzausbildungen oder Schnellkurse gefährdet. Der moderne Tanz bedeutet ja: weg vom reinen Erlernen von Fertigkeiten, hin zur Wahrnehmung des Körpers. Das beinhaltet einen längeren Prozess. Dem wird in solchen Kurzausbildungen keine Rechnung getragen. Das passt zwar in unsere Zeit, die fordert, alles müsse schnell erreichbar sein, aber da geht der Geist des modernen Tanzes verloren. Die mangelnde finanzielle Förderung der Ausbildungsstätten, insbesondere der berufsbegleitenden Ausbildungen, macht mir auch Sorgen.
Moderner Tanz in Deutschland
Der Moderne Tanz umfasst die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum entstandenen und bis heute lebendigen modernen Tanzstile und Ausbildungstraditionen der Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung. In der Zeit der Weimarer Republik entstanden durch das Wirken von Einzelpersönlichkeiten wie Rosalia Chladek, Rudolf von Laban, Mary Wigman, Gret Palucca, Maja Lex oder Kurt Jooss verschiedene ästhetische Stile sowie Vermittlungspraktiken des modernen, freien und expressiven Tanzes.
Aufgrund äußerst ausgereifter Methoden der Körperbildung und experimentell-explorativer und prozessorientierter Vermittlungsweise sind die verschiedenen Ausrichtungen des modernen expressiven Tanzes auch heute noch in verschiedenen Ausbildungskontexten eine Grundlage der zeitgenössischen Tanzausbildung.
Wer steht eigentlich hinter der Kulturform des modernen Tanzes?
Das ist ein loses Netzwerk verschiedener Verbände und Einzelpersonen. Es gab durch die Aufnahme als Immaterielles Kulturerbe ins Bundesweite Verzeichnis einen sehr starken, positiven Schub. Vorher ist jeder in der Szene so für sich selbst herumgekraxelt. Auf einem gemeinsamen Symposium 2015 in Köln war die Stimmung extrem gut. Die Eintragung hat für ein positives Gefühl der Zusammengehörigkeit gesorgt. Nun ist zum Beispiel eine gemeinsame Dokumentation des Symposiums geplant, um das Momentum nicht versanden zu lassen, und wir wollen diese Art von Treffen auch wiederholen. Besonderer Dank gebührt Claudia Fleischle-Braun, die viel koordinierende Arbeit bei der Bewerbung für das Immaterielle Kulturerbe geleistet hat, aber auch jetzt beim Symposium und der Dokumentation. Die internationale Zusammenarbeit kann künftig durchaus noch eine weitere Stärkung erfahren. Tanz ist schließlich ganz ohne Sprachbarrieren verständlich.
Was bedeutet Ihnen persönlich die Auszeichnung des modernen Tanzes als Immaterielles Kulturerbe?
Meine eigene Arbeit hat dadurch nochmal Boden bekommen. Es zeigt mir: Ich unterrichte etwas, was eine Bedeutung, ein Gewicht hat. Das hatte es für mich zwar immer. Aber die Anerkennung von außen, die dem nochmal Rechnung trägt, zeigt, das ist etwas Wesentliches, was auf unsere heutige Zeit Einfluss hat. Das wirkt als eine Art Rückenstärkung für das, was ich tue und was wir als Netzwerk des modernen Tanzes tun.