Orgelbau und Orgelmusik als Immaterielles Kulturerbe der Menschheit

Handwerkliches Erfahrungswissen zwischen Tradition und Innovation

Die Kulturanthropologin Dr. Dorothee Hemme von der Universität Göttingen untersucht in dem vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung geförderten Forschungsprojekt OMAHETI handwerkliches Erfahrungswissen zwischen Tradition und Innovation. Dazu besuchte sie zahlreiche Orgelbaubetriebe in Deutschland und interviewte Orgelbauer. Warum ist gerade der Orgelbau ein so innovationsstarkes Handwerk?

Aus der Auseinandersetzung mit überliefertem Wissen, der Nachahmung von traditionellen Handgriffen und dem Umgang mit alten Materialien resultiert nicht nur die Fortführung althergebrachter Formen. Traditionelles Wissen und Können sind auch Ausgangspunkt für fortschrittliche Objekte. Innovationsfreudigkeit spielt im Orgelbau seit jeher eine tragende Rolle – wie auch sonst hätte sich das Handwerk über mehr als 2000 Jahre erhalten können? „Wenn Tradition nur auf die Vergangenheit verweist, ist sie ein Fall fürs Museum. Wenn Tradition aber lebendig gehalten sowie kreativ und innovativ weiterentwickelt wird, dann ist es Immaterielles Kulturerbe“, so Hemme. Orgelbau und Orgelmusik wurden 2014 in Deutschland als Immaterielles Kulturerbe anerkannt, derzeit läuft die Nominierung auch für die Repräsentative Liste der UNESCO.

Die Handwerksbranche des Orgelbaus schafft einerseits langlebige Musikinstrumente, wandelt sich aber auch fortlaufend und passt sich an neue Entwicklungen, Bedürfnisse und Hörgewohnheiten an. Oft sind die technischen Neuerungen an einer Orgel für den Außenstehenden gar nicht sichtbar. Beispielsweise wurde die Traktur von Orgeln, also die Verbindung zwischen Tasten und Pfeifenventilen, immer wieder an neueste technische Entwicklungen angeglichen. Gab es anfangs nur mechanische Trakturen, wurden im Laufe der Zeit auch pneumatisch und elektrisch betriebene Trakturen entwickelt. Selbst modernste IT-Netzwerktechnik hat bereits Einzug in den Orgelbau gehalten. Seit jeher bildet der Orgelbau eine Symbiose zwischen traditionellem Handwerkswissen und der jeweiligen Zeit- und Kulturgeschichte.

Auch für die im Juni 2017 eingeweihte Orgel der Martinskirche in Kassel erdachte man sich etwas Neues: das Vierteltonmanual. Das ist weltweit einzigartig. Hierfür musste auch ein spezielles Drehventil entwickelt werden – ohne dieses hätte man nie das Klangvolumen und die Klangvielfalt erzeugen können, an der man sich in Kassel nun erfreuen kann. Durch diese und andere technische Neuerungen schafft der Orgelbau fortwährend Möglichkeiten völlig neue Kompositionen zu kreieren. Und neue Kompositionen regen wiederum die weitere Entwicklung des Orgelbaus an. Hier zeigt sich, wie Orgelbau und Orgelmusik sich gegenseitig zu Innovationen beflügeln.

Orgelbauer, so zeigt Hemmes Forschung, arbeiten aus Leidenschaft.

Weltweite Wissensweitergabe trotz Wettbewerbs

Das notwendige Wissen und Können für den Bau einer Orgel wird oft schon früh an die nächste Generation weitergegeben, das gilt besonders in Familienbetrieben. Nicht selten ist es heute eine junge und dynamische Generation, die, durchaus noch mit Hilfe der Eltern, den Betrieb weiterführt. „Orgeln haftet leider ein altes und verstaubtes Bild an. Die Tatsache, dass im Orgelbau aber oft junge und innovationsstarke Unternehmer am Werk sind, ist eine faszinierende wie erfreuliche Tatsache, die mit dem gängigen Klischee aufräumt“, erklärt Hemme.

Dass die Jungunternehmer bereits früh an das Handwerk herangeführt werden, hat einen wichtigen Grund. Um den Orgelbau kreativ weiterzuentwickeln braucht es vor allem eines: Erfahrungswissen. Ohne langjähriges und über Generationen gewachsenes Erfahrungswissen ist der Bau eines solchen Instruments nicht denkbar. Dabei geht es nicht nur um den eigenen Betrieb, sondern auch darüber hinaus; die verschiedenen Stile und Techniken des Orgelbaus, die Kenntnis, wann man wo welches Holz ernten sollte – das und noch einiges mehr muss ein guter Orgelbauer beherrschen.

Wenn man in einer Orgelbaufamilie groß wird, ist es gang und gäbe, dass man die Ausbildung nicht im eigenen Betrieb macht, sondern möglichst weit weg geht und andere Orgelbaulandschaften kennenlernt. Die Einsicht, dass das woanders erworbene Wissen und Können auch den eigenen Betrieb stärkt, ist unter den Orgelbauern weit verbreitet. Natürlich stellt firmeninternes Wissen auch einen Wettbewerbsvorteil dar. Doch steigt die Qualität des gesamten Handwerks vor allem dann, wenn die Wissensweitergabe und der Wissensaustausch aktiv vorangetrieben werden.

Orgelbauer müssen sich sowohl über den weltweiten Variantenreichtum von Orgeln bewusst sein, als auch an vielen verschiedenen Orgeln gearbeitet haben. Nur so bekommen sie eine Idee von den vielfältigen Möglichkeiten, wie man ein klangliches oder technisches Problem lösen kann. „Es ist vor allem der weltweite Austausch über den Variantenreichtum von Orgeln, der die Könnerschaft und das Erfahrungswissen ausmacht“, so Hemme.

Zusammenhang zwischen Orgelbauhandwerk und Lebenszufriedenheit

Viele Orgelbauer sagen, wenn man sich einmal für das Handwerk entschieden hat, lässt es einen nicht mehr los. Orgelbauer, so zeigt Hemmes Forschung, arbeiten aus Leidenschaft. „Man trifft sehr viele zufriedene Menschen, sowohl die Arbeits- als auch Lebenszufriedenheit sind außerordentlich groß“, erzählt Hemme. Diese Erkenntnis veranlasste Hemme und ihre Kolleginnen zu einem kleinen Exkurs in ihrem Forschungsprojekt: Man möchte dort nun auch der Frage nachgehen, wie genau sich der Zusammenhang zwischen Orgelbauhandwerk und Lebenszufriedenheit gestaltet – Glücksforschung sozusagen.

„Gerade was mir die jungen Leute alles erläutern konnten, hat mich hochgradig beeindruckt“, staunt Hemme. Die Zufriedenheit der Orgelbauer mit ihrem Handwerk hat auch damit etwas zu tun, dass sich ein Orgelbauer mit seinem handwerklich-künstlerischen Werk in die Zeit einschreibt. Orgeln sind ausgesprochen langlebige Instrumente. Und wer ein Orgelbauer ist, der kann alles bauen – in diesem Selbstverständnis der Orgelbauer spiegelt sich ihre herausragende Könnerschaft und Problemlösungskompetenz wider.

Nur durch Kooperationen kann das Handwerk weiter in die Zukunft getragen werden

Zwischen Orgelbauhandwerk und Wissenschaft gibt es vielfältige Kooperationen. So wurde beispielsweise an der Universität Potsdam ein Projekt mit einem großen Orgelbaubetrieb durchgeführt, um das Geheimnis des Orgelwindes zu erforschen. Für seine innovativen Lösungen erhielt der Betrieb 2009 den „Innovationspreis Berlin-Brandenburg“. Im Rahmen des Projekts wurden auch die Legierungen von alten Orgelpfeifen untersucht. Nicht selten fanden sich in den metallischen Pfeifen toxische Stoffe wieder. Wissenschaftler schlossen daraus zunächst, dass die Orgelbauer es früher einfach nicht besser wussten oder vielleicht kein besseres Material bekommen konnten.

Wie sich später herausstellte, war dem jedoch nicht so – im Gegenteil. Orgelbauer zogen früher von Hütte zu Hütte, um das beste Material für den Bau einer Orgeln zu finden. Nur mithilfe ihres Erfahrungswissens wählten sie gezielt jenes Orgelmetall aus, das bestimmte chemische Verunreinigungen enthielt. Mit heutigen wissenschaftlichen Methoden konnte nun nachgewiesen werden, dass diese Verunreinigungen in historischen Pfeifen eine Orgel wesentlich haltbarer machen.

Das Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart widmet sich seit vielen Jahren der Erforschung europäischer Musikinstrumente, insbesondere auch der „Königin der Instrumente“. Dafür steht den Wissenschaftlern eine eigens entwickelte Forschungsorgel zur Verfügung, an der Klänge und Funktionsweisen untersucht werden können. Mit der Forschungsorgel wird nicht nur das Klangwissen erweitert, auch neue Verbindungen zwischen Kunst, Musik und Wissenschaft sind möglich. 2012 kürten die Juroren der gemeinsamen Initiative von Wirtschaft und Bundesregierung „Deutschland - Land der Ideen“ diese Forschungsorgel als „Ort der Ideen“.  

Das inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekt „Objekte der Könner. Materialisierungen handwerklichen Erfahrungswissens zwischen Tradition und Innovation“, kurz OMAHETI, in dem Hemme zusammen mit Volkswirten und Wirtschaftspädagogen tätig ist, geht einen anderen Weg. Hier interessiert man sich vor allem für die Metaebene des Orgelbaus. „Wir versuchen das implizite Erfahrungswissen der Orgelbauer explizit zu machen und generell eine stärkere Wertschätzung von Erfahrungswissen im Handwerk zu erreichen“, so Hemme. Denn Wissen, das nicht direkt belegbar ist, spielt im europäischen Kontext bisher nur eine untergeordnete Rolle.

Demungeachtet konnte durch das Forschungsprojekt bereits wissenschaftlich bewiesen werden, dass der weltweite Wissensaustausch zwischen den Orgelbauern fundamental für die Innovationskraft des Handwerks ist. Anders ausgedrückt: Nur durch Kooperationen kann das Handwerk weiter in die Zukunft getragen werden. Neben der Erarbeitung von Materialien für die Öffentlichkeit sollen die durch das Forschungsprojekt entstandenen Erkenntnisse auch in die weitere Verbesserung der Orgelbauausbildung einfließen.

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