Auf ein Wort,
"Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist mir wichtig."
Olga Brandin
Mitglied des Aufsichtsrats der Genossenschaft Wiese eG
Olga Brandin ist Mitglied des Aufsichtsrats der Wiese eG – eine Genossenschaft, die derzeit ein theatrales Kultur- und Bildungszentrum aufbaut. Als inklusive Theatermacherin und Leiterin der Minotauros-Kompanie bringt sie dort ihre Erfahrungen ein. Die Kreativität in der Freien Szene boomt zwar, aber es fehle an Geld und Räumen. Um dem entgegenzuwirken, hat Frau Bandin sich zur Gründung der Genossenschaft entschieden, deren Anliegen es ist, Proberäume für die freie Theater- und Musikszene schaffen. Im Interview erklärt sie, was das Modell Genossenschaft für Vorteile bietet und wie sie damit die Kunst- und Kulturszene in Hamburg fördern will.
Frau Brandin, wie steht es um die Freie Theater- und Musikszene in Hamburg?
Die Freie Szene ist schon seit Jahrzehnten überaus aktiv. Es passiert unheimlich viel in der Darstellenden Kunst, in der Bildenden Kunst, in der Musikszene. Dort wird sehr experimentell gearbeitet. Es gibt auch viele sozialräumlich bezogene Projekte, etwa auf Performance-Ebene mit Flüchtlingen. Stark weiterentwickelt hat sich in Hamburg in den letzten Jahren die Tanztheaterszene. Im inklusiven Bereich gibt es drei professionelle Theaterensembles, eines davon, die Minotauros-Kompanie, leite ich. Es gibt ganz interessante Musikbands und im Theaterbereich spannende Aktivitäten von Akteuren aller Altersgruppen – von Kindern bis hin zu Senioren.
Kurz gesagt: Die Kreativität in der Freien Szene boomt, aber es fehlt an Geld und Räumen! Prozentual hat die Freie Szene in Hamburg deutschlandweit den niedrigsten Etat. Die Förderung stagniert und das wirkt sich unmittelbar auf die Möglichkeit, Räume für Proben und Aufführungen zu bekommen, aus. Zugleich hat sich die Raumsituation für Künstlerensembles verschärft. Auch die Entwicklung des Immobilienmarktes hatte natürlich einen Einfluss auf die Mietpreise für geeignete Proberäume. Das war einer der Hauptgründe für die Gründung der Genossenschaft „Wiese“ in den Räumen am Wiesendamm im Stadtteil Barmbek. Mit der Wiese eG wollen wir Proberäume für die freie Theater- und Musikszene schaffen. Das Genossenschaftsmodell ist dabei für mich eine tolle Form, um mit anderen Menschen auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten und zu wirtschaften.
Es gibt natürlich schon Orte der Freien Szenen. Einer der Vorstände der Wiese eG, Andreas Lübbers, führt zum Beispiel das Hamburger Sprechwerk. Er zeigt mit seinem Programm ein Spiegelbild dieser ganzen interessanten Darbietungen. Auch die Kulturfabrik Kampnagel hat ein spannendes Angebot. Für projektbezogene Kooperationen mit einer Schulklasse beispielsweise kann man meist für einen begrenzten Zeitraum einen Raum finden. Die langfristig arbeitenden Ensembles haben aber ein gravierendes Raumproblem. Das geht uns von der Minotauros-Kompanie auch so. Wir brauchen als inklusives Theater natürlich barrierefreie Räume, also solche, in denen Rollifahrer auch richtig in die Bewegung kommen können. Das war einer meiner Beweggründe für mein Engagement in der Wiese eG.
Wie genau kam es zur Gründung der Genossenschaft Wiese eG für den Betrieb einer Kulturproduktionsstätte?
Die beiden heutigen Vorstandsmitglieder Andreas Lübbers vom Hamburger Sprechwerk und Sören Fenner von Theapolis, einer Jobbörse für freischaffende Künstler, haben die Raumnot in Hamburg hautnah miterlebt und deshalb in den Jahren 2010 und 2011 intensiv nach Räumen gesucht. Dabei haben sie diese Räumlichkeiten am Wiesendamm aufgetrieben. Das ist eine alte Fabrik, die in der Vergangenheit kurzzeitig durch ein Theater genutzt wurde, dann aber wieder leer stand. Sie haben die Idee der gemeinsamen Nutzung in ihren Netzwerken publik gemacht. Die Reaktionen darauf waren gleich sehr lebendig: Vertreter von Kindertheatern, des Modernen Tanzes, Theatergruppen mit Migranten, Musiktheatern, über eine Schauspielschule bis hin zu Bildenden Künstlern und Musikern haben sich gemeldet. Es kam zu mehreren Treffen und eigentlich war von Beginn an klar, dass wir eine Genossenschaft gründen wollten.
Kulturtalente
Kulturtalente in ganz Deutschland prägen und gestalten das Immaterielle Kulturerbe. Sie erhalten kulturelle Traditionen durch Anwendung und Weitergabe ihres Wissens und Könnens. Die Deutsche UNESCO-Kommission stellte von Juli 2016 bis Juli 2017 12 Kulturtalente vor und zeigt, wie sie das Immaterielle Kulturerbe hierzulande kreativ weiterentwickeln. Olga Brandin ist das Kulturtalent des Monats November 2016.
Meine Erfahrung ist: Um den Gedanken hinter der Organisation von gemeinsamen Interessen durch Genossenschaften zu kommunizieren erreicht man unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Arten.
Warum? Was macht diese Organisationsform für Sie aus?
Klar war, dass wir ein ganz demokratisches Modell haben wollten, in dem die Nutzer auch die Besitzer sind und in dem ein großes Mitsprachrecht in der Struktur verankert ist. Da kam eigentlich für uns nur die Genossenschaft in Frage. Es geht hierbei – das ist eigentlich das Besondere – nicht darum, wer mehr Anteile hat: Jeder hat eine Stimme, egal ob er nur einen oder mehrere Genossenschaftsanteile hat. Alle begegnen sich also auf Augenhöhe mit dem gemeinsamen Ziel im Blick. Dieses ganze Rollenverhältnis war uns wichtig. Auch ideelle Ziele haben wir damit verbunden: Wirtschaften auf harmonische Art und Weise mit unserem Ziel, der Errichtung eines Probenzentrums der Hamburger Theater- und Musikszene, zu verbinden. Wir sind sozusagen dann Mieter und Geschäftspartner in einem.
Diese spezifische Form der Kooperation hat weitere konkrete Ergebnisse: Wir werden einen Kindergarten in der Wiese einrichten und planen eine Reihe von Kooperationen mit Schulen, denen wir auch Räume anbieten möchten. Wir wollen also im Stadtteil Barmbek auch sozialräumlich wirken. Wir wollen nicht nur für Kulturinstitutionen Räume zur Entfaltung schaffen, sondern auch den Menschen im Viertel Begegnungsräume anbieten und ihnen die Möglichkeit geben, aktiv etwas zu bewirken. Praktisch ist die Genossenschaft das Dach für eine Solidargemeinschaft und Begegnungsstätte. Das Konzept birgt viele Entwicklungsmöglichkeiten.
Was sind die nächsten Etappen?
Die Wiese war bis Juni 2016 Erstunterkunft für Flüchtlinge. Für die Umbaupläne ist von den Baubehörden in Hamburg aber schon grünes Licht gekommen. Jetzt haben wir erfreulicherweise Geld aus dem Bundesprogramm zur Sanierung von Sport-, Jugend- und Kultureinrichtungen erhalten: insgesamt 1.213.720 Euro. Da sind wir sehr froh. Der nächste Schritt ist jetzt die Durchführung der Prüfverfahren auf Bundesebene. Das Gebäude und die Räume sollen nämlich auch bauökologisch verbessert werden.
Wenn die Prüfung durch ist, können wir die Ausschreibungen für die Handwerker machen und dann kann es auch schon losgehen. Optimistisch gedacht, wäre unser Ziel, dass Anfang 2018 Künstler in die Wiese einziehen können.
Die Genossenschaftsidee als Immaterielles Kulturerbe
Die Idee und Praxis der Organisation von gemeinsamen Interessen in Genossenschaften – kurz Genossenschaftsidee – wurde 2016 als erste Kulturform aus Deutschland von der UNESCO als Immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt. Im Bundesweiten Verzeichnis ist sie bereits seit 2014 eingetragen. Im Energie-, aber gerade auch im Kultursektor beweist die Form gesellschaftlicher Selbstorganisation, die auf den Werten Solidarität, Verantwortung und Demokratie aufbaut, in den letzten Jahren ihre Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit an die Herausforderungen unserer Gesellschaft.
Wer steckt hinter der Genossenschaft?
Ich gehöre zu den 11 Gründungsmitgliedern und bilde heute zusammen mit zwei Genossen den Aufsichtsrat. Inzwischen sind wir 47 Genossen. Darunter ist auch der Hamburger Bezirk Nord mit 10 Anteilen. Etwa ein Drittel der Mitglieder hat feste Mietabsichten und zwei Drittel sind quasi Investoren. Wir sind noch sehr intensiv auf der Suche nach weiteren Genossen, die an diese Idee glauben, das kulturell total spannende Projekt unterstützen und sich auf dieses tragfähige Modell einlassen wollen.
Was macht man im Aufsichtsrat einer Genossenschaft?
Der Aufsichtsrat ist Teil des Genossenschaftsmodells. Er wird von den Mitgliedern gewählt. Unsere Rolle liegt vor allem im kontinuierlichen Austausch mit dem zweiköpfigen Vorstand, der die Geschäfte auf operativer Ebene führt. Wir werden vom Vorstand laufend über die Entwicklungen informiert und haben eine beratende Funktion. Wenn wir uns treffen, versuchen wir zusammen Lösungsvorschläge für bestimmte Fragen oder Problemstellungen zu entwickeln. Wir haben als Aufsichtsrat ja einen etwas größeren Außenblick, einen gewissen Abstand zum Tagesgeschäft, auch wenn das natürlich unser aller gemeinsames Projekt ist. Es ist also auch eine gegenseitige Unterstützung aus verschiedenen Perspektiven.
Die Bürger wollen sich ja engagieren und suchen regelrecht nach geeigneten Formen.
Wie haben Sie das Wissen und Können, das für den Betrieb einer Genossenschaft notwendig ist, erworben?
Wir haben uns einiges angelesen und uns vor allem durch persönliche Kontakte mit den Verantwortlichen in schon aktiven Genossenschaften informiert. Als es immer mehr in die praktische Umsetzung ging, mussten wir natürlich immer wieder mal nachschlagen oder nachfragen. Das war ein gemeinsamer Prozess.
In Hamburg gibt es noch viele andere interessante Genossenschaften im Kulturbereich: die Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG in Hamburg-Mitte oder die Viktoria-Kaserne mit der fux eG in Altona zum Beispiel. An dieser Entwicklung gerade in Kulturbetrieben kann man ablesen, dass sich das Genossenschaftsmodell als sehr zukunftsträchtig erweist; gerade für Zielgruppen, die ein wenig von traditionellen Unternehmensmodellen weg wollen und mehr auf Augenhöhe miteinander etwas entwickeln wollen, also nicht in einer starren Hierarchie.
Genossenschaften in Deutschland
Die „Väter“ der Genossenschaftsidee, Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen, gründeten Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten genossenschaftlichen Organisationen moderner Prägung in Deutschland. Aufbauend auf ethischen Werten wie Solidarität, Ehrlichkeit und Verantwortung konstruierten sie den grundlegenden rechtlichen Rahmen für die Genossenschaftsidee: eine Vereinigung mit nicht geschlossener Mitgliederzahl und gemeinschaftlichem Geschäftsbetrieb, die individuelles Engagement und Selbstbewusstsein stärkt und soziale, kulturelle und ökonomische Partizipation ermöglicht.
In Deutschland haben Genossenschaften heute mehr als 21 Millionen Mitglieder. Weltweit gibt es 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in über 100 Ländern.
Können Sie Ihre Erfahrung als Genossenschaftlerin an Freunde, Bekannte, Kollegen weitergeben?
Wir alle werben ja in unseren Netzwerken gerade für die weitere Beteiligung an der Wiese-Genossenschaft. Dabei stellen wir jedes Mal das Genossenschaftsmodell vor. Ich bin davon total überzeugt und versuche, die Leute dann eben auch davon zu überzeugen, indem ich möglichst präzise erkläre, wie die Zusammenarbeit funktioniert. Meine Erfahrung ist: Um den Gedanken hinter der Organisation von gemeinsamen Interessen durch Genossenschaften zu kommunizieren erreicht man unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Arten.
Hilft die Aufnahme der „Idee und Praxis der Organisation von gemeinsamen Interessen in Genossenschaften“ in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes Ihrer Arbeit?
Auf alle Fälle ist die Aufnahme in das Verzeichnis verdient. Ich würde mir wünschen, dass Idee und Praxis von Genossenschaften noch viel bekannter werden und mehr Anwendung finden. Aus dem einfachen Grund, dass es nicht diese hierarchische Starre hat – es gibt viel mehr Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten der einfachen Mitglieder – und weil das Rollenverhältnis moderner ist als sonst in gemeinschaftlichen Unternehmungen von Menschen. Eine Vielfalt von sehr unterschiedlichen Menschen und Organisationen hat unter diesem Dach Raum. Da hilft es natürlich ungemein, die Genossenschaftsidee und -praxis durch so eine wichtige Auszeichnung und sogar die Nominierung für eine UNESCO-Liste in den öffentlichen Fokus zu rücken. Es ist eine Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation mit den entsprechenden Werten, die uns als Gesellschaft gut tun. Die Bürger wollen sich ja engagieren und suchen regelrecht nach geeigneten Formen.
Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist mir wichtig.
Etwa 21 Millionen Deutsche sind heute Mitglied in einer Genossenschaft. Glauben Sie, dies hat eine relevante Wirkung auf unsere Gesellschaft und ihre Werte?
Die Zahl spricht erst einmal natürlich für sich. Für viele ist das Verständnis glaube ich aber derzeit noch sehr wohnungsorientiert. Wohnungsbaugenossenschaften sind einfach am bekanntesten. Obwohl es ja eine beträchtliche Anzahl von Genossenschaftlern in Deutschland gibt, würde ich mir wünschen, dass das Modell noch mehr auf die allgemein politisch-gesellschaftliche Tagesordnung kommt und an Tragweite gewinnt. Mehr Vernetzung zwischen den Genossenschaften und Genossenschaftlern über die einzelne Organisation hinweg wäre schön.
Spüren Sie ein verbindendes Gefühl mit den Mitgliedern anderer Genossenschaften?
Dass ich Genossin der Wiese eG bin, prägt meine Identität zu einem gewissen Stück mit. Gegenseitige Wertschätzung und Verständnis für die Aktivitäten und die Organisationsform – das spüre ich schon, wenn ich auf andere Genossenschaftler treffe. Gerade mit der Gängeviertel Genossenschaft hat der Austausch mich immer ermutigt, weil die uns schon ein paar Schritte voraus sind in der Umsetzung. Und auch mit gegenseitigem Ideen- und Erfahrungsaustausch kann man sich gegenseitig gut die Stange halten.
Die Genossenschaftspraxis ist heute weltweit verbreitet. Man geht von 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in über 100 Ländern aus. Welches Potenzial sehen Sie für die Kulturform in Zukunft – lokal in Hamburg und auch deutschland- wie weltweit?
Es wäre wünschenswert, dass die Idee nicht nur als ideelle, sondern als realistisch umsetzbare Form im Kleinen wie auch im Großen noch mehr in den Fokus des gesellschaftlichen Bewusstseins rückt. In Indien oder in Afrika gibt es ja auch eine Reihe von Genossenschaften beziehungsweise Kooperativen. Die Situation in Indien kenne ich gut: Da tun sich zum Beispiel selbstständige Schneider zusammen und teilen sich zu viert eine Nähmaschine. So bauen sie sich etwas Eigenes auf. Das funktioniert dort hervorragend. Das ist zwar nur im ganz Kleinen, aber es geht ja immer zunächst um den einzelnen Menschen, dann um eine kleine Gruppe, die gemeinsam wirksam wird. So ist das auch bei uns, bei der Wiese: Da ist die Raumnot und dann kommt der Wunsch, kreativ Lösungen zu schaffen.
Die Frage ist doch: Wie bringt man diese Möglichkeit, diese Struktur weiter unter die Menschen? Gerade bei den Entwicklungshilfeorganisationen sollte das Modell stärker bekannt sein und vor Ort mitgetragen und unterstützt werden. In dem Spannungsbogen zwischen Globalisierung und lokaler beziehungsweise regionaler Situation schafft das Genossenschaftsmodell eine gute Brücke, weil es der Uniformierung entgegensteuert. Es sind ja immer die Menschen vor Ort, die sich in einer Solidargemeinschaft zusammenschließen. Diese kennen ihre praktischen Bedarfe und ihr Umfeld so gut, dass sie gezielt produktiv werden können.