Auf ein Wort,
"Ein Chor ist wie eine Fußballmannschaft - es geht nur gemeinsam."
Christiane Büttig
Leiterin des Universitätschors Dresden
Laura Müller
Chorsängerin der Singakademie Dresden
Im Interview berichten Christiane Büttig (33), Leiterin des Universitätschors Dresden und aktiv an der Semperoper und im Dresdner Staatsschauspiel, sowie Laura Müller (18), Chorsängerin der Singakademie Dresden und Studentin der Mathematik an der TU Dresden, wie das gemeinsame Proben und Auftreten ein Gefühl von Zusammengehörigkeit schafft und welche Faszination die Beschäftigung mit der eigenen Stimme ausübt.
Was ist für Sie das Besondere am Singen in einem Amateurchor?
Müller: Die Chormusik nimmt einen großen Teil meines Lebens ein. Ich habe in den letzten Jahren Gesangsunterricht genommen und einige Solokonzerte gegeben. Mich hat es jedoch immer sehr gereizt, mit einer Gruppe aufzutreten. So bin ich zur Dresdner Singakademie gekommen, die mir in den bisher drei Monaten meiner Mitgliedschaft schon ans Herz gewachsen ist. Besonders reizen mich das gemeinsame Musizieren, dieses spezielle Gemeinschaftserlebnis und das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Alle im Chor müssen ihr Bestes geben, damit ein Gesamtkunstwerk entstehen kann. Interaktion ist dafür sehr wichtig, sowohl mit dem Chorleiter, als auch mit den Sängern.
Büttig: Ich sehe das genauso. Hinzu kommt, dass die Amateurchöre das Rückgrat der Musikpflege und Musikausübung in Deutschland sind. Ohne sie könnten weder eine professionelle Musikausübung noch große Oratorienaufführungen stattfinden. Zudem prägen Amateurchöre den künstlerischen Nachwuchs. Es gibt eine unglaubliche Vielfalt an Texten und Stilen, die die Chöre singen und pflegen. In den Amateurchören finden sich Menschen unterschiedlicher Schichten zusammen, die gemeinsam singen und proben und auf eine Aufführung hinarbeiten. Für die musikalische Bildung sind sie ein unverzichtbarer Grundstein genauso wie für die Entfaltung eines kreativen Persönlichkeitsbildes. Dadurch wirken sie prägend auf unsere Gesellschaft.
Wie kamen Sie zur Chormusik?
Müller: Ich fing mit dem Singen bereits im Kindergarten an. Eine Musikschullehrerin kam regelmäßig zu uns und hat uns ein erstes Rhythmusgefühl beigebracht und mit uns Lieder gesungen. Zudem bin ich in einer musikalischen Familie aufgewachsen, was mich durchaus geprägt hat. Deswegen habe ich seit der ersten Klasse Gitarrenunterricht genommen, in der achten Klasse kam Klavierunterricht hinzu. Neben dem Gitarren- und Klavierspielen wollte ich aber auch gesanglich aktiv werden. Das Benutzen der Stimme ist etwas ganz Ursprüngliches, dies hat mich total gereizt. Der Umgang mit der Stimme und die Stimmbildung sind zugleich spannende Herausforderungen. In meiner Schule gab es bedauerlicherweise kein Chorangebot, sodass ich nur zu Weihnachtskonzerten die Möglichkeit bekam, in einer Gruppe aufzutreten. Doch schon das Erarbeiten dieser einfachen Weihnachtslieder hat mir viel Spaß bereitet. Ein weiterer Punkt ist, dass durch den Chor viele Kontakte geknüpft werden und neue Freundschaften entstehen. Probewochenenden oder gemeinsame Reisen mit dem Chor stärken diese sozialen Beziehungen.
Büttig: Ich bin schon mit fünf Jahren in einer Singeklasse gewesen und habe anschließend in einem Mädchenchor weiter gesungen. Parallel dazu habe ich ein Gymnasium mit einem ausgeprägten musisch-künstlerischen Profil besucht, wo ich auch Musik als Leistungskurs hatte. Studiert habe ich dann als Erststudium Schulmusik und Sport. Schon vor dem Studium hatte mich meine damalige Chorleiterin zu einem Chorleiter-Seminar mitgenommen, wo ich anschließend mit dem Mädchenchor Stimmgruppenproben leiten durfte und mich in der Stimmbildung engagierte. In Rostock habe ich während des Studiums als Hochschulchorassistentin und in Schwerin am Musikgymnasium mit dem Jugendchor zusammengearbeitet. Selbst gesungen habe ich auch sehr viel: erst im Kammerchor in Rostock, dann im Dresdner Kammerchor und im Vocalconsort Berlin, wo ich neben den sängerischen Erfahrungen viele Handschriften und Probenmethoden verschiedenster Dirigenten kennengelernt habe. Schon während meines Erststudiums wollte ich aber unbedingt ein Dirigierstudium anschließen, da mich die musikalische Arbeit mit Chören und Orchestern, die Konstellation von verschiedenen Menschen und die Verbindung von Stimme und Text unglaublich reizte. Man arbeitet zusammen an einem Text, der in verschiedensten Formen musikalisch umgesetzt wird. Man muss neben der Musik die historischen Ereignisse bzw. biografischen Bezüge der Komponisten kennen und den Text inhaltlich erfassen und verstehen. Erst dann kann man die Stücke dem Ensemble vermitteln und an Feinheiten wie Klangfarben arbeiten. Auf diese Weise kann ich auch einen eigenen Interpretationsansatz finden.
Kulturtalente
Kulturtalente in ganz Deutschland prägen und gestalten das Immaterielle Kulturerbe. Sie erhalten kulturelle Traditionen durch Anwendung und Weitergabe ihres Wissens und Könnens. Die Deutsche UNESCO-Kommission stellte von Juli 2016 bis Juli 2017 12 Kulturtalente vor und zeigt, wie sie das Immaterielle Kulturerbe hierzulande kreativ weiterentwickeln. Christiane Büttig und Laura Müller sind die Kulturtalente des Monats Dezember 2016.
Was genau ist für Sie der Kern dieses Kulturerbes? Welches Wissen und Können wird von Generation zu Generation weitergegeben?
Müller: Der Kern für mich ist das Gemeinsame, das „Wir-Gefühl“. Das ist etwas, was man als Solomusiker so nicht erleben kann. Es bereitet viel mehr Freude, die eigene Leidenschaft gemeinsam in einer Gruppe auszuüben. Das weitergegebene Wissen und Können umfasst nicht nur das Singen an sich, sondern auch die generelle musische Bildung. Dazu gehören unter anderem musiktheoretische Grundlagen als auch musikgeschichtliche Aspekte.
Büttig: Für mich ist es auch der unglaublich wertvolle und umfangreiche kulturelle Schatz an Chorliteratur: Werke der Chormusik des Barock, der Klassik, der Romantik und der Moderne. Dieses Repertoire wird von den Amateurchören gepflegt und in Konzerten aufgeführt und vermittelt. Man muss sich bewusst machen, dass diese Werke in verschiedenen Zeitepochen geschrieben wurden und mit einer bestimmten Geschichte verbunden sind, also verschiedene musikalische Handschriften haben. Das weiterzugeben und diese Schätze hörbar zu machen, halte ich für eine bedeutsame und wichtige Aufgabe.
Wie erschafft die Kulturform dieses spezielle „Wir-Gefühl“?
Büttig: Der Chor wächst mit jeder Aufgabe, mit jedem Projekt. Das Singen hat ein sehr hohes Identifikationspotenzial. Man hat die gemeinsame Sprache, man spricht zur gleichen Zeit einen Text in der Stimmgruppe oder im Chor. Man versucht die Vokale so anzugleichen, dass der Chor bzw. die Stimmgruppe wie eine Stimme klingt. Dieses gemeinsame Singen eines Textes mit gleicher Melodie verbindet natürlich und kann darüber hinaus eine unglaubliche Energie entfalten – nicht zuletzt durch den teils hochemotionalen Inhalt von Musik. Musik wird zu einem Zauber, den alle erleben können. Es ist ein besonderes Erlebnis gemeinsam zu singen, in der Probe, aber noch mehr während der Aufführung.
Müller: Für mich ist es der Gedanke, dass ein gemeinsames Kunstwerk entsteht. Am Anfang jeder Erarbeitung steht eine leere Leinwand, die durch die Proben nach und nach bemalt wird; jede Probe ist hier wie ein Pinselstrich. Das Konzert vollendet schließlich das Gemälde und das Publikum darf das Kunstwerk bestaunen. Das „Wir-Gefühl“ und der starke Zusammenhalt der Chormitglieder entsteht durch das gemeinsame wöchentliche Proben, die Kommunikation untereinander und generell die geteilte Freude am Singen. Erst vor kurzem haben wir Bachs Weihnachtsoratorium aufgeführt. Obwohl ich den Adventssonntag nicht mit meiner Familie verbringen konnte, fühlte ich mich in der Gemeinschaft des Chores heimisch. Man ist viel mit den anderen Chormitgliedern zusammen, tauscht sich aus und begreift sich als eine Gruppe. Auch durch die Dachverbände wird das „Wir-Gefühl“ gestärkt, sei es durch gemeinsame Projekte oder die Organisation und Durchführung von Konzerten mit anderen Amateurchören.
Die Arbeit mit der Stimme ist etwas ganz Ursprüngliches.
Chormusik als Immaterielles Kulturerbe
Die Chormusik in deutschen Amateurchören ist seit 2014 als Immaterielles Kulturerbe im Bundesweiten Verzeichnis gelistet. Amateurchöre stellen das Rückgrat der Musikpflege und Musikausübung in Deutschland dar, ohne das die professionelle Musikausübung undenkbar ist. Dies manifestiert sich gegenwärtig in mindestens 60.000 Chören, die überwiegend in verschiedenen Chorverbänden registriert sind. Jährlich werden über 300.000 Konzerte für rund 60 Millionen Zuhörerinnen und Zuhörer veranstaltet.
Wo ist der Ursprung der Kulturform und wie hat sie sich im Laufe der Geschichte gewandelt?
Büttig: Chorgesang ist eine der ältesten Ausdrucksformen der deutschen Kultur. Er begann sich im frühen Mittelalter im religiösen Raum durchzusetzen, wo sich vor allem Knabenchöre gebildet haben, beispielsweise in Dresden, Regensburg, Halle oder Leipzig. Im Zuge der Reformation erhielt das gemeinsame Singen in den Gemeinden, angeführt von Kantoren und Chören, eine besondere Bedeutung. Von da an lässt sich eine stringente Linie verfolgen: ausgehend von den barocken Komponisten wie Schütz und Bach über die chorsinfonischen Werke der Klassik, die zur Gründung der ersten Singakademie unter Carl Friedrich Christian Fasch 1791 in Berlin führten. Es folgte die bürgerliche Chorbewegung, die im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte und die man als ein Ergebnis der Aufklärung bezeichnen kann. Die Singvereine und Singakademien widmeten sich großen Oratorien, die mitunter in Riesenbesetzungen bei großen Sängerfesten aufgeführt wurden. Dabei waren oft mehrere Hundert oder Tausend Mitwirkende beteiligt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die Bewegung der Arbeitergesangvereine, unter anderem mit Hermann Scherchen, Anton Webern, später auch Eisler und Dessau, die mit der Wiederbelebung des schlichten Volkslieds und älterer Vokalmusik einherging. Die Zeit der Nazidiktatur hat tiefe Spuren der Deformation im Chorwesen hinterlassen. Nach dem Krieg erlebten die Ensembles einen neuerlichen Aufschwung, bekannten sich zur grenzüberwindenden Kraft des Singens und gaben viele Impulse zur Internationalisierung. Viele Vereine und Profiensembles haben verstanden, dass man das Singen wieder stärker in den Fokus rücken und fördern muss, damit es nicht verkümmert. Dadurch sind neue Formate entstanden wie Flashmobs, Mitsingkonzerte oder Liederbörsen. Sie sollen das Singen attraktiv und es als natürliche und einfachste Ausdrucksform des Menschen begreifbar machen. Schließlich verbindet das Singen und macht auch noch glücklich.
Was sind die Aufgaben der Dachverbände?
Büttig: Die Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände ist der Dachverband, unter dem verschiedene Verbände mit spezifischen inhaltlichen Schwerpunkten organisiert sind. Dazu kommen Verbände, die für bestimmte Zielgruppen spezialisiert sind, beispielsweise Konzertchöre, Kantoreien der evangelischen oder katholischen Kirchen, Kinder- und Jugendchöre. Der Verband Deutscher KonzertChöre fördert wirklich anspruchsvolle Chormusik und pflegt verschiedene Stilepochen auf musikalisch hochwertigem Niveau. Der Deutsche Chorverband organisiert etwa alle vier Jahre das Deutsche Chorfest und im Zweijahresrhythmus die Messe chor.com in Dortmund. Dazu kommen verschiedene Chorwettbewerbe, etwa der Internationale Kammerchor-Wettbewerb der BDC in Markoberndorf ist einer der hochangesehensten Chorwettbewerbe weltweit.
Ein Chor ist wie eine Fußballmannschaft - es geht nur gemeinsam.
Wie geben Sie Ihr Wissen und Können über die Chormusik in ihrer täglichen Arbeit weiter? Wie läuft eine Chorprobe ab?
Büttig: Eine Probe beginnt mit dem Einsingen, das heißt einer Stimmerwärmung. Dabei lege ich besonderen Wert auf die Atmung, die gleiche Form der Vokale, dass die Ohren wach sind und ganz allgemein darauf, dass der Körper – unser Instrument – auf die weitere Probe vorbereitet wird. Das ist ja das Besondere am Singen: Wir brauchen kein extra Instrument, das Instrument ist bereits in uns. Um es zu benutzen, müssen wir nur die entsprechenden Muskeln aktivieren und richtig einsetzen. Ganz wichtig sind auch die Ohren, die werden beim Singen oft unterschätzt. Bevor ich den Ton singe, muss ich den Ton innerlich vorhören, ihn mir vorstellen; außerdem brauche ich gute Ohren, um mich im Ensemble gut zu integrieren. Ich muss also hören, wie ich im Ensemble klinge und wie das Ensemble mit mir klingt. Dann kommt das Einstudieren von Literatur. Hier geht es um Töne und Texte. Ein umfassendes Textverständnis finde ich ganz wichtig. Jedes Chormitglied muss inhaltlich und geschichtlich verstanden haben, was in dem Stück passiert. Haben alle zum Beispiel eine Ahnung davon, welche Lebensumstände den Komponisten begleiteten, wann und warum er das Stück geschrieben hat, was der Text in Verbindung mit den Tönen bedeutet, dann bekommt jeder eine ganz bestimmte Vorstellung vom Stück. Nur so kann man die Musik, die auf dem Blatt geschrieben steht, hörbar werden lassen. Man hört bei jedem Chor, ob er weiß, was er singt.
Viele Menschen gehen in der Adventszeit in Choraufführungen. Warum wohl?
Büttig: Es ist traditionell bedingt. Sehr viele Menschen kennen und singen Weihnachtslieder, bereits von Kindheit an. Zur Weihnachtszeit gibt es viele Konzerte, bei denen Weihnachtslieder gesungen werden. Weihnachten ist ein Hochfest, für das speziell sehr viel Chormusik geschrieben wurde. Ich glaube aber auch, dass es uns aufgrund der Kürze der Weihnachtszeit und der besonders hohen Dichte an Chorkonzertangeboten teilweise so vorkommt, dass Menschen besonders in der Adventszeit in Chorkonzerte gehen. Andere Konzerte mit Chormusik verteilen sich stärker über das gesamte Jahr. Natürlich zeigt sich dort, dass es ein gewisses Stammpublikum für diese Kulturform gibt und je nach Konzertform und Programmauswahl der Interessentenkreis variiert.
Amateurchöre in Deutschland
Die Tradition der deutschen Amateurchöre ist eine seit tausend Jahren praktizierte kulturelle Ausdrucksform, die im religiösen Umfeld der Kirchen ihren Ursprung hat. Im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert wurden die deutschen Laienchöre zum Schwerpunkt bürgerlicher Musikkultur und lösten sich vom feudalen Umfeld. Mit dieser Emanzipationsbewegung leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur Bewusstseinsbildung der bürgerlichen Gesellschaft und damit zur Demokratiebewegung. Heute stellen sie das Rückgrat der Musikpflege und Musikausübung dar, ohne das die professionelle Musikausübung undenkbar ist.
Wie erhält man die Chormusik in Amateurchören?
Büttig: Ich versuche verschiedene, abwechslungsreiche Programme zu entwickeln, die innovativ sind und das Repertoire aller Stilepochen pflegen. Die Programme müssen einen roten Faden haben und die Stücke thematisch zusammenpassen. Auch unbekannte Stücke sind für die Weiterbildung und Entwicklung des Chors und für das Publikum sehr interessant und wichtig. Zudem ist die Nachwuchsarbeit unglaublich wichtig. Deswegen engagiere ich mich als Künstlerische Leitung von „ChorALARM“, einer Initiative der Semperoper in Dresden, die das Singen in Schulen und Schulchören fördert. Ich glaube, wenn Kinder das Singen nicht mehr als natürliche Ausdrucksform begreifen, haben Jugend- und Erwachsenenchöre keine Überlebenschancen. Man sollte mit den Kindern früh einfache Lieder singen, von denen sie sich thematisch angesprochen fühlen. Wenn das den Kindern gut vermittelt wird, werden sie nicht mehr über Töne nachdenken müssen, das kommt dann ganz intuitiv. Sie sollten das Singen als Gemeinschaftserlebnis begreifen. Sie müssen verstehen, dass sie ein gemeinsames Stück auch gemeinsam bewältigen müssen – wie bei einer Fußballmannschaft. Wenn jemand sich nicht integriert und nicht seinen Beitrag leistet, dann wird es schwierig. Man muss immer einen gewissen Anspruch an einen Chor haben, das heißt, mit einer Zielsetzung arbeiten. Auch eine motivierende Strenge ist hier förderlich. Am Ende sind alle stolz, wenn gemeinsam ein Konzert erfolgreich gemeistert wurde.
Müller: Im Großen Chor der Singakademie singen einige Studenten, zudem haben wir einen Kinderchor. Es ist so gedacht, dass der geförderte junge Nachwuchs schließlich in den Großen Chor übergeht. Eine gewisse Strenge ist bei den Chorproben notwendig, da gebe ich Frau Büttig vollkommen Recht. Nur so wird man ein gemeinsames Ziel erreichen können. Die Proben sind der Weg und das Konzert ist das Ziel, auf das wir hinarbeiten. Das funktioniert nur, wenn der Chorleiter mit Disziplin und Verantwortung an die Sache herangeht. Aber auch jedes Chormitglied trägt Verantwortung dafür, wie das Gesamtkunstwerk im Endeffekt aussehen wird und wie es gänzlich auf die Zuhörer wirkt. Damit die Kulturform lebendig bleibt, muss beim Nachwuchs das Interesse geweckt werden, sich in einem Amateurchor zu engagieren. Die thematische Differenzierung kann hier eine große Rolle spielen. Wir als Singakademie widmen uns jährlich einem bestimmtem Motto. Damit wecken wir das Interesse für neues Repertoire und begeistern die Leute für Chormusik aller Art. Auch gibt es uns die Möglichkeit, neue Chormitglieder zu gewinnen. Nächstes Jahr steht bei uns alles unter dem Motto „Form, Reform und Revolution“. Wir thematisieren das 500. Reformationsjubiläum um Martin Luther sowie 100 Jahre Oktoberrevolution unter Lenin. Dafür haben wir ganz neue und differenzierte Programme vorbereitet sowie neues Repertoire aufgenommen. Man muss Musik reflektieren, denn Musik ist für mich auch eine Form von Bildung – dazu zählt nicht nur die Stimmbildung, sondern auch das Musiktheoretische, vor allem aber das Musikgeschichtliche. Das Auseinandersetzen mit den Texten und verschiedenen Zeitepochen finde ich sehr spannend.
Der Wert der Chormusik liegt im Immateriellen, es ist von Menschen für Menschen.
Zur Zukunftsperspektive der Kulturform: Sind Amateurchöre aus Ihrer Sicht gefährdet?
Müller: Es muss früh angefangen werden, Kinder für diese Kulturform zu begeistern. Schon im Kindergarten sollte das gemeinsame Singen und Musizieren einen Schwerpunkt bilden. Zugleich ist es essentiell, dass sich diese Motivation auch im Elternhaus wiederfindet. Musikalische Früherziehung nimmt leider immer mehr ab. Wenn dann Musik in der Schule nur noch als banales Nebenfach abgewertet und lediglich auf prüfungsrelevanten Stoff gesetzt wird, kommt die Freude an der Musik zu kurz. Da Musik an meiner Schule keine große Bedeutung beigemessen wurde, empfanden viele meiner Mitschüler den Unterricht als langweilig. Das ist sogar für mich nachvollziehbar, weil Lehrer zuweilen musikalisch nicht motivieren. Es muss vermittelt werden, dass Musik ein wichtiger Lebensinhalt sein und das Leben bestimmen kann. Die menschliche Stimme, wie Frau Büttig sagte, ist ein Instrument an sich. Jeder besitzt es und jeder sollte es erlernen und spielen können. Nur regelmäßiges Training kann zur Beherrschung dieses Instrumentes führen. Deswegen hat mich die Stimmbildung so gereizt, weil man lernt, mit dem eigenen Instrument umzugehen. Weiterhin halte ich den verstärkten Einsatz von sozialen Medien zur Bewusstseinsbildung für Amateurchormusik für sehr sinnvoll. Ich mache häufig auf Konzerte sowie andere Ereignisse rund um unseren Chor und die Chormusik selbst über Facebook aufmerksam. Ich finde es äußerst schade, wenn Jugendliche sagen, sie bräuchten nicht zu Konzerte zu gehen, weil sie diese auch online ansehen können. Man sollte begreifen, dass ein Live-Konzert ein ganz besonderes und einzigartiges Erlebnis ist. Ich habe noch nie Gänsehaut bekommen, wenn ich mir im Internet ein Konzert angeschaut habe – live ist das ganz anders. Der Wert der Chormusik liegt im Immateriellen, es ist von Menschen für Menschen.
Büttig: Der Deutsche Musikrat hat kürzlich einen Forderungskatalog „Fuck you 1Falt. Musikalische Vielfalt ermöglichen und nutzbar machen“ veröffentlicht. Dieser ist an den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung, den Bundesrat und die Dachvereinigungen der Kommunen und Länder adressiert. Forderung 1 ist, dass 350 Millionen Euro zweckgebundene Bundesmittel als Ergänzungsfinanzierung für die musikalische Regelförderung eingesetzt werden sollten. Das würde ich definitiv unterschreiben. Wenn es weiterhin an Musiklehrern mangelt, Musik als Nebenfach abgestempelt wird und die musikalische Förderung schon im Schulalltag oder auch im Kindergarten nicht genügend Beachtung findet, dann ist die Chormusik in Gefahr. Wenn Kinder nicht mehr singen, spiegelt sich das in den Chören wieder.
Welche internationalen Kontakte bestehen zwischen und in Amateurchören?
Büttig: Die integrative Komponente leistet jeder Chor selbst. Jeder, der gerne singt, kann aufgenommen werden. Die Integration von beispielsweise Migranten und gesellschaftlichen Randgruppen gehört zum selbstverständlichen Alltag von Chören. Herkunft spielt dabei keine Rolle. In Dresden gibt es außerdem das Montagscafé im Staatsschauspiel. Dort gibt es einen Chor, der alle zwei Wochen eine offene Singrunde veranstaltet, in der zusammen mit interessierten und talentierten Flüchtlingen gesungen wird. Zur Vermittlung von internationalen Kontakten und Chortreffen wie „Europa Cantat“ kann man sich bei der Bundesvereinigung Deutscher Chorverbände und beim Arbeitskreis Musik in der Jugend sehr gut informieren. Auf diesem Weg ist ein Austausch mit anderen Amateurchören möglich. Zudem ist es an den Ensembles selbst, Kontakte zu Chören in Partnerstädten herzustellen und mit Hilfe von Fördermitteln einen musikalischen Austausch zu ermöglichen. Es gibt auch Einladungen von anderen Chorfesten oder großen Fachtagungen, bei denen man sich mit speziellen Konzertprogrammen bewerben kann. Ich habe vor zwei Jahren zum Beispiel ein Stück von Amaral Vieira aus Lateinamerika aufgeführt. Wir hatten den Komponisten eingeladen und er ist nach Dresden gekommen, hat sich unser Konzert angehört und zwei Proben mit dem Chor gemacht. Das war ein tolles Erlebnis.
Müller: Mit der Singakademie planen wir 2018 eine Reise nach Südafrika. Wir haben dort Kontakte zu einem Chor. 2017 wird dieser Chor zu uns kommen, einige Mitglieder werden wir bei uns zu Hause aufnehmen. 2016 stand bei uns alles unter dem Motto „Musik der Tausend“ in Anlehnung an Gustav Mahlers 8. Sinfonie – ein Werk, das nicht nur für tausend Ausführende gedacht ist, sondern auch Tausende erreichen soll. Wir haben zusammen mit dem Universitätschor und dem „Israel Philharmonic Orchestra“ gearbeitet. Das verdeutlicht noch einmal die starke internationale Vernetzung der Amateurchöre.
Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung der „Chormusik in deutschen Amateurchören“ als Immaterielles Kulturerbe?
Müller: Für mich ist es auch eine persönliche Anerkennung und Motivation, die mich in dem bestärkt, was ich mache. Dass das Amateurchorsingen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde, zeigt, wie wichtig die Erhaltung dieser Tradition ist. Ich selbst möchte weiterhin Konzerte bestreiten, im Chor bleiben und Auftritte genießen können. Genauso wichtig ist es für mich, dass ich mich in eine Kirche oder einen Konzertsaal setzen und anderen Chören zuhören kann. Jeder Künstler wie Chor besitzt seinen ganz persönlichen und individuellen Stil. Dieses differenzierte Chorbild sollte bestehen und die Tradition erhalten bleiben.
Büttig: Ich kann das nur unterschreiben. Ergänzend ist es mir wichtig zu betonen, dass der Status Immaterielles Kulturerbe auch mit Verpflichtungen seitens der Politik verbunden ist. Wir können uns nun darauf berufen, dass wir für die Pflege dieses Erbes weitere Unterstützung benötigen. Nur dadurch können wir den Erhalt dieses Immateriellen Kulturerbes sicherstellen.