Jakob Muth-Preisträger
Landesförderzentrum Sehen (LFS) Schleswig
Seit 1983 unterstützt und berät das Landesförderzentrum Sehen (LFS) in Schleswig blinde und sehbehinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Inzwischen unterstützen 80 Mitarbeiter des LFS – rund 70 Lehrkräfte und 10 Verwaltungsmitarbeiter – knapp 1000 Kinder und Jugendliche in ganz Schleswig-Holstein. Im LFS allerdings trifft man die eher selten - wenn, dann im zugehörigen Kurshaus nebenan, weil einer von 40 jährlichen Kursen stattfindet. Denn das LFS ist seit seiner Gründung eine Schule ohne Schüler – die nämlich besuchen die Kita oder die Schule vor Ort.
Lehrkräfte trifft man am Landesförderzentrum schon eher. Alle vierzehn Tage trifft sich hier das gesamte Kollegium zum „Schleswig-Dienstag“. Zusammen mit der Teamstruktur bilden diese Tage das Herzstück der Arbeit des LFS. Jeder der 70 Pädagogen ist einem von fünf Teams zugeordnet:
- das Team Früh- und Elementarbereich unterstützt insgesamt ca. 200 Kinder im Vorschulalter
- das Team Sehbehinderung unterstützt ca. 200 Kinder in allgemeinen Schulen
- das Team Mehrfachbehinderung unterstützt ca. 350 Kinder, die zusätzlich den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung haben, z. T. in Förderzentren
- das Team Blindheit unterstützt ca. 20 Kinder an allgemeinen Schulen
- und das Team Berufliche Bildung unterstützt ca. 150 Jugendliche.
An den „Schleswig-Dienstagen“ besprechen die Lehrkräfte in ihren Teams Fallbeispiele, klären inhaltliche Fragen, fördern die eigene Expertise und entscheiden über die Zuständigkeit für einzelne Kinder oder Jugendliche. Im Vierwochenrhythmus ist der Nachmittag des „Schleswig-Dienstages“ einer Gesamtkonferenz gewidmet, in der sich das gesamte Kollegium austauscht. In der Kombination bedeutet das: Jedes Team verfügt damit über eine umfangreiche professionelle Ressource, auf die wiederum jedes Teammitglied zugreifen, sich austauschen und beraten kann. Damit bleibt die hohe Professionalität erhalten, weil durch diesen kollegialen Austausch vermieden wird, dass es zu Vereinzelung in der Arbeit vor Ort kommt.
Die Teams zeichnen sich besonders durch ihre Zusammenarbeit an den Übergängen Kita/Schule/Beruf aus. Jeder Teamkollege ist für bestimmte Kinder oder Jugendliche zuständig. An den jeweiligen Übergangssituationen arbeiten die Kollegen der aufeinanderfolgenden Stufen jeweils schon lange vor dem Übergang intensiv zusammen. So arbeiten etwa die Kollegen aus dem Früh- und Elementarbereich in Vorbereitung auf die Schule eng mit dem Team Sehbehinderung bzw. Blindheit zusammen, so dass ein Kind schon mindestens ein Jahr vor Schulbeginn im Kontakt mit der Lehrkraft steht, die es dann im Schulalltag begleiten wird. Am anderen Ende der Schulkarriere gilt: Steht ein Schüler zwei Jahre vor einem angestrebten Schulabschluss, bildet ein Kollege aus dem Sehbehinderten-Team oder BliKi (Blinde Kinder/Jugendliche)-Team – je nachdem, in welche Zuständigkeit der Schüler fällt - ein Tandem mit einem Kollegen aus dem Team Berufliche Bildung. Durch diese Zusammenarbeit ist sichergestellt, dass alle wesentlichen Aspekte in den verschiedenen Stufen betrachtet werden und keine Informationen verloren gehen. Insgesamt begleitet das LFS Kinder und Familien von der ersten Verdachtsdiagnose (das kann im Alter von wenigen Tagen sein) bis zum Abschluss der Ausbildung bzw. bis zum Ende des ersten Studienjahres.
Gleichzeitig kann das gesamte Kollegium des LFS auf die Ressourcen des Medienzentrums und der „Aufarbeitungszentrale“ zugreifen. Im Medienzentrum findet sich eine große Auswahl an Material und technischen Hilfsmitteln, die zunehmend auch so konzipiert und zusammengestellt sind, dass das Material für die ganze Klasse, nicht nur für den sehbehinderten oder blinden Schüler interessant ist und die Dinge be-greifbar macht. Benötigt eine Lehrkraft für den Unterricht Material zu einem bestimmten Themengebiet, etwa „Familie“ oder „Fortpflanzung“, etc., so werden die benötigten Materialien nach Bedarf zusammengestellt und können dann von der Lehrkraft abgeholt werden. Auch im Früh- und Elementarbereich steht viel Material zur Verfügung, das ausgeliehen werden kann, auch längerfristig an Familien mit betroffenen Kindern. Weiter gehört als wesentlicher Bestandteil zur Arbeit des Zentrums die oft zeitaufwendige Aufbereitung von (Schul-)Materialien für die einzelnen Schüler (Vergrößerungen, Punktschriftübersetzungen und Umarbeitung).
Aus dem Kollegium heraus rekrutieren sich die Verantwortlichen für zwei weitere, wesentliche Angebote des LFS:
- Die Kurse für sehbehinderte oder blinde Kinder und Jugendliche und
- Die Kurse für Lehrkräfte, die derzeit oder zukünftig Kinder mit Sehbehinderung oder Blindheit unterrichten sollen.
Die Kurse ermöglichen den Schülern, sich untereinander in einer Peer-Group austauschen und gemeinsam zu lernen. Dabei geht es um lebenspraktische Fragen, Mobilitäts- und Orientierungstraining, Theater, aber auch die Möglichkeit, mit anderen Kindern und Jugendlichen in einer ähnlichen Lage über ihre Erfahrungen, Erfolge, Wünsche und Träume zu sprechen. Jedes Kind, das vom LFS unterstützt wird, kann im Jahr bis zu drei Kurse besuchen, die auf die Unterrichtszeit angerechnet werden. Ergänzend zu den Kursen für Schüler gibt es auch welche für Eltern und auch für Großeltern der Kinder.
In den Seminaren werden Lehrkräfte allgemeiner Schulen auf ihre Aufgaben vorbereitet und dabei unterstützt. Eine Sensibilisierung zum Thema schlecht oder nicht sehen hilft den Lehrkräften in ihrer weiteren Arbeit vor Ort.
Ist kein „Schleswig-Dienstag“, so unterstützen und beraten die Lehrkräfte „ihre“ Kinder und Jugendlichen zuhause, in der Kita, der Schule oder im Übergang zum Beruf. Jeder Kollege ist für bestimmte Kinder und Jugendliche zuständig – dabei begleiten die Teammitglieder im Früh- und Elementarbereich tendenziell mehr Kinder und arbeiten eng mit den Eltern und der Frühförderung zusammen. Die Teammitglieder aus dem Bereich Blindheit arbeiten oft nur mit 1-3 Schülern, weil dort eine engere Begleitung notwendig sein kann. In welchem Umfang die Begleitung stattfindet, hängt dabei von der jeweils aktuellen Situation und dem individuellen Bedarf des Kindes oder des Jugendlichen ab und kann sich über die Zeit verändern. Dabei arbeiten die Lehrkräfte des LFS und die Lehrkräfte vor Ort in den allgemeinen Schulen eng zusammen.
Durch die Kombination aus dezentraler und zentraler Organisation, dem intensiven professionellen Austausch und der Expertisenentwicklung an den „Schleswig-Dienstagen“, ebenso wie durch die enge Kooperation mit den Lehrkräften vor Ort, wird Inklusion im besten Sinne möglich: Die Schüler besuchen eine allgemeine Schule und bleiben in ihrem gewohnten Umfeld –im Bereich Sehbehinderung und Blindheit noch ungewöhnlich, da in anderen Bundesländern noch immer eine Internatskultur vorherrscht und erhalten gleichzeitig hochkompetente Unterstützung durch das LFS. Aufgrund der Kursstruktur ist außerdem sichergestellt, dass der Kontakt zur Peer-Group nicht verloren geht und bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernt werden, die den Rahmen allgemeiner Schule sprengen würden. So können die Schüler etwa durch ein Tastaturschreibtraining am PC lernen, den Unterricht aktiv zu verfolgen. In der Schule verwenden sie dann meist ein Notebook. Diese sind bei blinden Schülern mit einer Braillezeile und einer Vorlesesoftware ausgestattet, bei sehbehinderten oft mit einer Vergrößerungs- /Sprachausgabensoftware und einer externen Tafelkamera – Material, das aus dem LFS kommt. Im Kurs „Sicher und clever im Straßenverkehr“ z. B. lernen die Schüler grundlegende Aspekte der Verkehrserziehung kennen, um die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen; bei Theater geht es u. a. um den sicheren Umgang auf großer Bühne und die Entwicklung des Selbstbewusstseins.
Möglich ist diese Arbeit unter anderem durch ein kluges Arbeitszeit- und –ortsmodell: Die Lehrkräfte haben ihren offiziellen Arbeitsort an einem regional festgelegten Ort (in der Nähe ihres Wohnortes) wo die Kinder und Jugendlichen unterstützt werden sollen und verpflichten sich auf 45 Stunden Arbeitszeit in der Woche, um die Ferienzeit auszugleichen. Damit gibt es eine hohe Flexibilität für die Arbeit in den Netzwerken vor Ort und es zählt zumindest ein Teil der Fahrzeit, die für die dezentrale Organisation der Arbeit von so entscheidender Bedeutung ist, zur Arbeitszeit.
Insgesamt zeigt das Landesförderzentrum Sehen beispielhaft, wie vollständige Inklusion gelingen kann und wie die so wesentliche sonderpädagogische Expertise erhalten werden kann. Damit kann das Förderzentrum einen Anstoß für alle Förderschwerpunkte geben, weil es ein Modell lebt, dass Kindern und Jugendlichen den selbstverständlichen Besuch einer Regelschule – nicht einer Schwerpunktschule! – und den höchstmöglichen Schulabschluss ermöglicht und sich gleichzeitig durch hohe Professionalität auszeichnet.