Jakob Muth-Preisträger
Waldorfschule Emmendingen
„Es ist normal, verschieden zu sein“: Unter diesem Motto lernen seit fast 20 Jahren Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam an der Waldorfschule Emmendingen. Bis heute ist sie die einzige staatlich anerkannte integrative Schule in Baden-Württemberg. Zurzeit besuchen 280 Schüler in den Klassen eins bis zwölf die Schule; darunter 40 Schüler mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten (geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung und emotional-soziale Entwicklung). Sie alle leben und lernen gemeinsam auf der Grundlage der Waldorfpädagogik. Ganz bewusst hat die Schule kürzlich entschieden, ihren Namen zum Schuljahr 2015/16 von „Integrative Waldorfschule Emmendingen“ in „Waldorfschule Emmendingen“ zu ändern. Dann drückt der Name aus, was im Kern steht: eine Schule für alle Kinder!
An der Waldorfschule Emmendingen kennt jeder jeden. Waldorflehrer und Heilpädagogen führen ihre Klasse als Team gemeinsam acht Schuljahre lang. Die Klassen 9-12 werden vom Oberstufenteam betreut. Die neunte Klasse übernimmt jeweils die Patenschaft für die neue erste Klasse. Insgesamt lernen die Schüler 12 Jahre zusammen, von der ersten Klasse bis zum Waldorfabschluss. Die intensiven Beziehungen zueinander schaffen ein besonderes Vertrauen. Dadurch gelingt es, auch gemeinsam durch die Jahre der Pubertät zu kommen, in denen sonst Integration und Inklusion oft an ihre Grenzen stoßen.
In Emmendingen gibt es keine Noten und keine Versetzungsfragen: jede Klasse bleibt vom ersten bis zum zwölften Jahr zusammen. Stattdessen kann sich jedes Kind in seinem Tempo entwickeln. Die Entwicklung des einzelnen, nicht ein Klassenziel, stehen im Vordergrund. Dabei wird, im Sinne der Waldorfpädagogik, immer das ganze Kind mit allen seinen Sinnen angesprochen: Bewegungsspiele, Gartenbau, Werken, Handarbeit, Theater, aber auch lange Praktika gehören ganz selbstverständlich zum Stunden- und Jahresplan. Das kommt allen Kindern und Jugendlichen entgegen, besonders denjenigen mit dem Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung.
Der Weg und die Entwicklung vom Schulanfänger bis zum jungen Erwachsenen drückt sich in Emmendingen schon im Gebäude aus: jedes Stockwerk ist einer Stufe vorbehalten und hat eine eigene farbliche Gestaltung in Lasurtechnik, so dass die Wandflächen lebendig erscheinen und die Wirkung der Räume bewusst unterstützen.
Die Unterstufe mit den Klassen 1 bis 4 lernt im Erdgeschoss. Flur und Foyer sind in Gelbtönen gehalten – warm und einladend. Die Klassenräume gehen von zartem Rot in der ersten Klasse bis Zitronengelb in der vierten Klasse. Bei der Einrichtung überwiegt Holz. Insgesamt herrscht ein friedlicher, freundlicher Charakter. In den ersten drei Klassenstufen gibt es zusätzlich das „Bewegliche Klassenzimmer“: leichte Holzbänke ersetzen Tische und Stühle, ein großer Teppich bildet den Mittelpunkt. In der Unterstufe beginnt jeder Tag mit dem rhythmisierten Anfang, mit gemeinsamem Aufsagen von Sprüchen, Singen, Bewegungsspielen, Rätseln, häufig mit Bezug zum Jahreskreis. Jeden Tag dürfen die Kinder, die an diesem Wochentag geboren sind, ihren Zeugnisspruch aufsagen. Diesen Spruch bekommen die Kinder als Teil ihres Zeugnisses. Er begleitet sie während des gesamten kommenden Schuljahres und soll ihnen Orientierung für ihre Entwicklung und ihren Weg geben. Für den gemeinsamen Anfang bilden die Bänke einen großen Sitzkreis mit freier Fläche. Danach nehmen die Kinder die Bänke als Tische, stellen sie in Reihen aufund sitzen, knien oder hocken auf Sitzkissen zum Arbeiten davor.
Die Mittelstufe, Jahrgänge 5-8, ist im hellblau lasierten ersten Stock untergebracht. Die Klassenzimmer sind in Grün- und Blautönen gehalten. Hier wird eine nüchternere, ernstere Stimmung spürbar, es geht um die ersten Schritte aus der Kindheit in die Jugend. In der Mittelstufe gehen die Bedürfnisse der Schüler stärker auseinander. Bei den einen steht Zielorientierung und Selbstfindung an, bei den anderen geht es um Mobilität im Alltag oder lebenspraktisches Training. Aber während es im gegliederten Schulsystem sonst in dieser Zeit oft keine Berührungspunkte zwischen diesen Wegen gibt, erleben die Schüler in Emmendingen diese Zeit gemeinsam: – im gemeinsamen Tages- oder Unterrichtsbeginn, bei den künstlerisch-praktischen Arbeiten und im Epochenunterricht in Biologie, Kunstgeschichte oder auch Deutsch. Differenzierung und Individualisierung finden ebenfalls ihren Platz – etwa in Extrastunden parallel zur zweiten Fremdsprache oder in differenzierten Epochenthemen. Ein großes Theaterprojekt (sogenanntes „Achtklassspiel“) und die erste Jahresarbeit beenden die achte Klasse. Auch hier bildet die Waldorfpädagogik eine wichtige Grundlage für Gemeinsamkeit und Individualität: während das Achtklassspiel eine Anstrengung der ganzen Klasse ist, bei der sich jeder mit seinen Stärken in ein gemeinsames Projekt einbringt, beschäftigt sich für die Jahresarbeit jeder Schüler schriftlich, künstlerisch und/oder handwerklich mit einem selbstgewählten Thema und stellt es im Anschluss öffentlich vor. Beides zusammen bildet den Abschluss der Mittelstufe.
Der Oberstufenflur der Jahrgänge 9 bis 12 im zweiten Stock ist in Violett lasiert und die Klassenräume in ganz leichter Lasur von Hellblau bis Lila. Besonders in den letzten Schuljahren findet die Gemeinschaft hier oft wieder zusammen, auf eine neue und reifere Weise, wenn aus suchenden Jugendlichen langsam junge Erwachsene werden. Die oft schwierige Zeit in der späteren Mittel- und frühen Oberstufe ist durchgestanden. Die Schüler erleben, wie es sie prägt, gemeinsam im Alltag mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen umzugehen und Verschiedenheit anzunehmen. Oft wachsen daraus Erkenntnisse, die die Schüler für ihr Leben wichtig finden. Verschiedene Praktika begleiten sie auf ihrem Weg durch die Oberstufe: in der 9. Klasse ein Landwirtschaftspraktikum, in der 10. Klasse ein Betriebspraktikum und Feldmesspraktikum, und in der 11. Klasse das Sozialpraktikum. Alle Praktika dauern jeweils mindestens drei Wochen. Alle Schüler schließen ihre Schulzeit am Ende der 12. Klasse mit dem Waldorfabschluss ab. Dazu gehört die zweite große Jahresarbeit. Ein weiterer wichtiger Teil ist das „Zwölfklass-Theaterstück“. Das gemeinsam mit einem Profi erarbeitete Theaterstück bietet allen Schülern die Möglichkeit, sich mit ihren Stärken einzubringen.
Im 12- Schuljahr gibt es außerdem die Möglichkeit, den Realschulabschluss abzulegen. Im Anschluss an das 12. Schuljahr kann in einem 13. Schuljahr in Kooperation mit einer benachbarten Waldorfschule das Abitur erworben werden.
Überall in der Waldorfschule Emmendingen ist spürbar: hier geht es um eine gemeinsame Sache, von Schülern, Pädagogen und auch Eltern. Die gemeinsam verbrachte Zeit schafft Erfahrungen, die gerade da wichtig sind, wo Gesellschaft inklusiv werden möchte – Erfahrungen von Vielfalt und von Schwierigkeiten – und wie es gelingt, damit umzugehen.
Ein Schüler der Oberstufe fasst das so zusammen: „Irgendwie bin ich stolz darauf, diese Erfahrungen gemacht zu haben. Freunde zu haben, die ›anders‹ sind, aber eben doch vertraut. Das ist mehr wert, als mancherlei Lernstoff! Weil es eben das richtige Leben angeht. Ich weiß, wie und dass ich mit Menschen mit Behinderung leben und wie ich mich verhalten kann. Ich glaube, dass das sehr prägend ist." (Engesser, www.erziehungskunst.de, Juli 2013).