Auf ein Wort,

Le Corbusiers Werk erhalten – Zusammenarbeit über Grenzen hinweg

Piet Geleyns

Piet Geleyns
UNESCO-Welterbe Focal Point für Flandern

Herbert Medek

Herbert Medek
Stadtverwaltungsdirektor der Landeshauptstadt Stuttgart

Mit sechs länderübergreifenden Welterbestätten ist Deutschland so vernetzt wie kein anderer Vertragsstaat der UNESCO-Welterbekonvention. Stätten wie der Muskauer Park, der römische Limes oder das Wattenmeer reichen über national-staatliche Grenzen hinweg. Sie bieten dadurch eine besondere Möglichkeit für den grenzübergreifenden Austausch und Dialog. Gleichzeitig stehen sie vor der Herausforderung eines komplexen Managements angesichts unterschiedlicher rechtlicher Rahmenbedingungen, Finanzierungsquellen, politischer Leitlinien und Sprachen. Als grenzüberschreitende Stätte wurde 2016 das Werk Le Corbusiers mit zwei Häusern der Stuttgarter Weissenhofsiedlung und 16 weiteren Bauten und Ensembles in Argentinien, Belgien, Frankreich, Indien, Japan und der Schweiz in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen. Wie die ausgewählten architektonischen Werke in internationaler Zusammenarbeit erhalten werden sollen, erklären Piet Geleyns, UNESCO-Welterbe Focal Point für Flandern, und Herbert Medek, Stadtverwaltungsdirektor der Landeshauptstadt Stuttgart, im Interview.

Zwei Häuser der Stuttgarter Weissenhofsiedlung in Deutschland zählen seit 2016 ebenso zum Welterbe wie die Maison Guiette in Belgien und 15 weitere Stätten, die von Le Corbusier erbaut wurden. Welchen Wert haben Sie für die Menschheit?

Medek: Die von Le Corbusier entworfenen Gebäude sind ein außergewöhnlicher Beitrag zur Moderne, die als historisches und soziokulturelles Ganzes zu sehen ist und bestimmend für das 20. Jahrhundert und die Grundlage für die architektonische Kultur des 21. Jahrhundert ist. Le Corbusiers Werk spiegelt die Vielfalt der Moderne, er war ihr Wortführer und prominentester Vertreter. Sein Werk hat einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung künstlerischer, menschlicher und gesellschaftlicher Konzepte in der modernen Architektur.

Piet Geleyns: Aus meiner Sicht ist auch wichtig, dass die Serie zeigt, wie Le Corbusier sich entwickelt hat. Er war zu Beginn ein eher klassischer Architekt, der sich dann enorm gewandelt hat. Zu der Welterbestätte gehören beispielsweise die Häuser in Stuttgart und Antwerpen. Sie sind Beispiele von Le Corbusiers Citrohan-Bautyp, den er 1925 in Paris, bei der internationalen Ausstellung für angewandte Kunst, ausprobiert und dann fast gleichzeitig in Stuttgart und Antwerpen als Wohnhaus gebaut hat. Der Bau in Antwerpen war sein erster Versuch, seine Ideen außerhalb von Frankreich und der Schweiz zu realisieren. Dort hat er angefangen, die Welt zu erobern. Spätere Werke wie beispielsweise Chandigarh haben dann ein ganz anderes Erscheinungsbild.

Welche Bedeutung haben die Bauten in Stuttgart und Antwerpen für die Menschen vor Ort?

Medek: In Stuttgart spielte das Thema Wohnen die große Rolle. Die Stuttgarter Häuser sind Prototypen für zwei unterschiedliche Wege der Standardisierung im Wohnungsbau. Die beiden Häuser sind Modelle für die Serienfertigung für die breite Masse. Sein Einfamilienhaus, der sogenannte Citrohan-Typ, zeigt das Konzept einer „Wohnmaschine“ erstmals bei einem freistehenden Einzelgebäude. Das Doppelhaus ist gebautes Beispiel seiner „Fünf Punkte einer neuen Architektur“ – der Stützen, der Dachgärten, der freien Grundrissgestaltung, der Langfenster und der freien Fassadengestaltung. Viele Stuttgarter sind stolz auf ihre Welterbestätte, wenn auch manchen die modernen Formen auch heute noch zu modern sind. Allerdings gab der Eintrag in die Liste einigen auch den Impuls, sich vor Ort ein Bild zu machen. Die Besucheranzahl im Museum ist seither stark gestiegen.

Geleyns: Die Maison Guiette wurde Mitte der achtziger Jahre von dem heutigen Besitzer gekauft. Das Haus ist also noch immer in Privatbesitz. Damals fanden die meisten Bewohner der Siedlung es hässlich. Das hat sich mittlerweile geändert, aber man muss noch immer bestimmtes Wissen in Bezug auf Architektur mitbringen, um zu verstehen, wie groß die Bedeutung der Maison Guiette ist. Hier kommen wir ins Spiel, denn wir müssen den Menschen die Bedeutung von Le Corbusiers Bauten vermitteln. Etwas schwierig ist das zuweilen, weil das Haus in privater Hand und noch immer bewohnt ist, sodass man es in der Regel nicht besuchen kann. Gleichzeitig ist das für den Erhaltungszustand eine sehr gute Sache, weil eine private Nutzung dem Bau deutlich weniger zumutet als eine öffentliche Nutzung. Es ist immer eine Frage der Balance: Was ist das Beste für das Werk, was für die Gesellschaft? 

Sind die Stätten in Stuttgart und Antwerpen vor allem Orte der Erinnerung an die Vergangenheit oder auch heute noch Orte des kreativen Schaffens?

Geleyns: Sie sind beides. Auf der letzten Jahresversammlung im indischen Chandigarh zu unserer gemeinsamen Welterbestätte wurde beispielsweise vorgeschlagen, dass wir Architekturschulen in den Städten, die Teile von Le Corbusiers Erbe beherbergen, miteinander vernetzen. So könnten Studierende die Architektur Le Corbusiers über Grenzen hinweg betrachten und analysieren, welchen Einfluss er auf das heutige Bauen hat.

Medek: Le Corbusiers Häuser stehen hier in der Weissenhofsiedlung. In dieser Ausstellung „Die Wohnung“ des Deutschen Werkbunds haben 1927 außer Le Corbusier und seinem Vetter Pierre Jeanneret 15 weitere Architekten ihre Ideen zum modernen Wohnungsbau realisiert. Die Siedlung ist bewohnt. Im Doppelhaus von Le Corbusier befindet sich allerdings das Weissenhof-Museum und in der Weissenhof-Werkstatt im Haus von Ludwig Mies van der Rohe finden interessante Veranstaltungen zum Thema Architektur statt. Dasselbe gilt für die daneben liegende Architekturgalerie im Haus von Peter Behrens. Zudem befindet sich die Akademie der bildenden Künste in unmittelbarer Nähe. Der Genius loci ist also heute noch spürbar.

Le Corbusiers Architektur wurde von einigen hoch gelobt, von anderen als menschenverachtend verurteilt. Was können wir aus den als Welterbe ausgezeichneten Bauten für die Zukunft der Stadtentwicklung lernen?

Medek: Bereits im Laufe der Werkbundausstellung „Die Wohnung“, zu der die Gebäude entstanden sind, riefen die Konzeptionen entweder enthusiastische Zustimmung oder tiefe Ablehnung hervor. Letztendlich handelt es sich um Experimente, ohne die jedoch in keinem Lebensbereich ein Fortschritt möglich ist. Es ist ein Angebot, sowohl in architektonischer als auch in technischer Hinsicht, wie modernes Wohnen in aller Vielfalt funktionieren kann. Für Stuttgart ist die Auszeichnung ein Signal, das Thema 100 Jahre später für die 2027 geplante Internationale Bau-Ausstellung IBA aufzurufen und damit in die Zukunft zu bringen. 

Geleyns: Interessant finde ich, dass beispielsweise die Maison Guiette eine Wohnung ist, die noch heute – fast 100 Jahre nach ihrem Bau – sehr modern wirkt. Jeder, den ich kenne, würde gerne in der Wohnung leben. Die Ansätze Le Corbusiers scheinen also auch in der Gegenwart noch sehr relevant zu sein. Auch in Architekturschulen wird Le Corbusier immer noch gelehrt. Neben dem Entwurf von Bauten hat Le Corbusier übrigens auch ganze Stadtentwicklungspläne erarbeitet. Der für Antwerpen wurde zwar nicht realisiert, aber es wurden einige Ansätze übernommen. Seine Ideen sind also in der Stadt auch heutzutage noch sehr präsent.

Die Welterbestätte erstreckt sich über insgesamt sieben Länder – Gebäude in Argentinien, Belgien, Frankreich, Indien, Japan, der Schweiz und Deutschland zählen dazu. Wie gestaltet sich der Austausch zwischen den Verantwortlichen dieser zahlreichen Bauten? Was können Sie voneinander lernen?

Medek: Zur Vorbereitung der Bewerbung, die ja erst im dritten Anlauf erfolgreich war, gab es zwischen den Verantwortlichen ständige Kontakte und viele Treffen auf Arbeitsebene. Noch vor der Einschreibung wurde eine sogenannte Ständige Konferenz eingerichtet, die einmal im Jahr in jeweils einem anderen Land zusammentritt. 2016 fand die Konferenz in Chandigarh statt, nächstes Jahr wird sie in Tokio sein, 2018 in der Schweiz und 2019 in Stuttgart – in der Reihenfolge der Länder nach französischem Alphabet. Dadurch ist ein ständiges Lernen voneinander gesichert, beispielsweise hinsichtlich der Restaurierung und dem Erhalt der einzelnen Bauwerke. Wir freuen uns sehr auf die weitere Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen.

Geleyns: Das geht uns auch so. Im Rahmen der Jahresversammlung wollen wir künftig noch viel intensiver über das Management der Stätte und die Grundpfeiler der Zusammenarbeit sprechen. Auch Entwicklungen, die eventuell einen negativen Einfluss auf die Stätte haben könnten, sollen hier thematisiert werden. Denn es ist offensichtlich, dass eine schwierige Entwicklung an einem Bau von Le Corbusier in einem Land auch alle anderen Länder betreffen wird, weil die Werke eben als gemeinsame Stätte in die Welterbeliste aufgenommen wurden.

Was sind die größten Herausforderungen beim Management der Stätte?

Geleyns: Die Herausforderungen sind für die beteiligten Länder sehr unterschiedlich. Bei uns ist der Erhaltungszustand gut, aber wir müssen an der Kommunikation intensiv arbeiten, um den Wert des Welterbes auch der Öffentlichkeit zu vermitteln. Die Kollegen aus dem indischen Chandigarh hingegen sind sehr an unserer Expertise zur klassischen Denkmalpflege interessiert. Dort stehen also Herausforderungen bezüglich des Erhaltungszustandes im Vordergrund. 

Medek: Besonders wichtig ist aus meiner Sicht die Überwachung des Erhalts der Werke und der Anwendung der bestgeeigneten Techniken dafür. Wir arbeiten auf diesem Gebiet sehr eng mit dem Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart zusammen und tauschen uns international in der Ständigen Konferenz, aber auch auf Arbeitsebene persönlich aus.

Mit der Auszeichnung als Welterbestätte geht auch ein Bildungsauftrag einher. Wie vermitteln Sie den Wert und die Historie Ihrer Stätten an die allgemeine Öffentlichkeit?

Geleyns: Wie vorhin schon erwähnt, sind wir hier noch in einem Findungsprozess. Da das Haus in privatem Besitz ist, wird die Stadt Antwerpen die Vermittlungsarbeit kreativ angehen müssen.

Medek: In Stuttgart bietet das Weissenhof-Museum im Haus Le Corbusier die beste Möglichkeit, den Wert und die Historie zu veranschaulichen. Darüber hinaus finden häufige Kontakte mit den Hochschulen statt, die manchmal auch in gemeinsame Projekte münden. Führungen zeigen dem interessierten Publikum die Möglichkeiten der Architektur der Moderne. Zahlreiche Publikationen runden die Öffentlichkeitsarbeit ab.

Welche Entwicklungsperspektiven sehen Sie für die Welterbestätte in den kommenden Jahren?

Medek: Wir möchten den Erhaltungszustand aller Gebäude der Welterbestätte weiter verbessern. Hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit soll in Stuttgart ein neuer Web-Auftritt und die Verwendung von QR-Codes für Smartphones und Tablets Umfang und Mehrsprachigkeit der Informationen verbessern. Zum 100-jährigen Jubiläum der Weissenhofsiedlung und damit auch der beiden Stuttgarter Häuser von Le Corbusier soll eine Internationale Bau-Ausstellung IBA in Stuttgart und der Region stattfinden.

Geleyns: Ich wünsche mir zunächst einmal, dass die Finanzierung unserer internationalen Zusammenarbeit sichergestellt wird. Wir haben eine architektonisch herausragende Welterbestätte in sieben Ländern und wir benötigen Geld, um sie angemessen zu erhalten. Wer welchen Beitrag dazu leistet, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Daran müssen wir arbeiten. Auf einer ganz anderen Ebene sollten wir aus meiner Sicht noch einmal überlegen, ob weitere Bauten Le Corbusiers zu unserer Stätte hinzukommen sollten, die zum universellen Wert beitragen. Wir haben ja drei Anläufe gebraucht, um auf die Welterbeliste zu kommen. In diesem Prozess wurden immer wieder unterschiedliche Bauten in den Blick genommen und eruiert, welchen Wert sie für die Menschheit haben. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Überlegungen weiterführen könnten und vielleicht noch weitere Bauten aus Indien, dem US-amerikanischen Cambridge oder anderen Orten in die Serie aufnähmen.

 

Piet Geleyns...

...arbeitet seit 2004 bei der Agentur für Kulturerbe in Flandern, seit 2008 ist er dort der Welterbe-Beauftragte. Er hat den Nominierungsprozess von Le Corbusiers Werk für das UNESCO-Welterbe mitgestaltet und ist weiterhin beteiligt an der Erweiterung der Welterbe-Serien „Buchenurwälder der Karpaten und alte Buchenwälder Deutschlands“ und den „Kolonien der Wohltat“ (Belgien, Niederlande) sowie an der Antragsstellung für die „Denkmäler und Friedhöfe des Ersten Weltkriegs – Westfront“ (Belgien, Frankreich).

Herbert Medek...

...leitet in Stuttgart die kommunale Denkmalschutzbehörde und ist mit den beiden Stuttgarter Häusern von Le Corbusier seit vielen Jahren vertraut. In Führungen und Publikationen gibt er sein Wissen weiter. Den Einschreibungsprozess begleitete er für Stuttgart federführend seit 2011. In den nächsten Jahren fungiert er als Stuttgarter Welterbe-Manager.

 

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