Auf ein Wort,
"Es ist gleichzeitig ein Kunstwerk und ein Geschichtswerk"
Dr. Dominique Lanzmann
Leiterin der Stiftung Claude und Felix Lanzmann
Anlässlich der Einschreibung des Dokumentarfilms "Shoah" von Claude Lanzmann in das internationale Register des Weltdokumentenerbes "Memoy of the World" spricht die Witwe von Claude Lanzmann und Leiterin der Stiftung Felix und Claude Lanzmann, Dr. Dominique Lanzmann, über den Film und die geplanten Aktivitäten der Stiftung.
Sie haben 2020 die Initiative ergriffen, um das restaurierte 35-mm-Filmnegativ von „Shoah“, dem von Ihrem Mann über zwölf Jahre erstellten Dokumentarfilm, und das begleitende Audioarchiv „Zeugen der Geschichte der Shoah“ in das internationale Register des UNESCO-Weltdokumentenerbes einzutragen. Was waren Ihre Beweggründe dafür?
Dr. Dominque Lanzmann: Meine Motivation war es, das Werk meines Mannes seinem Wert gemäß zu bewahren und zu schützen. Da ich mir der zentralen Bedeutung als Werk des 20. Jahrhunderts bewusst war, eines Jahrhunderts, das in ferner Zukunft vielleicht sowohl als das Jahrhundert des Films als auch als das Jahrhundert der Shoah angesehen wird, fragte ich mich, womit ich beginnen sollte: Die Aufnahme in das Weltdokumentenerbe schien mir die angemessenste und universellste Anerkennung und der Weg zu allen Möglichkeiten zu sein, denn nach den Regeln der UNESCO müssen die eingetragenen Dokumente der Menschheit einen Charakter von universellem Interesse aufweisen.
Was macht den Film „Shoah“ so einzigartig?
Lanzmann: Es ist gleichzeitig ein Kunstwerk und ein Geschichtswerk, dem Claude Lanzmann zwölf Jahre seines Lebens widmete. Er hat sich dabei mit den größten Historikern der damaligen Zeit umgeben. Es ist der Film eines Philosophen, der zum richtigen Zeitpunkt, zum einzig möglichen Zeitpunkt, gedreht wurde. Es handelt sich um ein Werk, das praktisch ohne Archivmaterial auskommt und das ein völliges Eintauchen für neuneinhalb Stunden erfordert. Belohnt wird dies mit der einzigartigen Erfahrung, einen intimen Einblick in das zu bekommen, was der Holocaust war. Das Einzigartige an diesem Werk ist sein Thema: die Todesmaschinerie der Nazis und sein Rhythmus, der langsam genug ist, um zum Nachdenken anzuregen und dafür Zeit zu lassen, die Schönheit seiner Bilder, die Schönheit der Gesichter und der Landschaften zu erfassen, den Moment, in dem es konzipiert wurde, die Unmöglichkeit, es zu wiederholen; die Vorstellungsarbeit, die es beim Zuschauer auslöst, die Originalität seiner Inszenierungen, um das Ereignis geschehen zu lassen, seine zeitlose Gegenwart, die immer noch aktuell ist.
Claude Lanzmann war der richtige Künstler zur richtigen Zeit, mit dem richtigen Blickwinkel. Zehn Jahre vorher war es nicht möglich, die Sprache war noch nicht dazu bereit, die Historiker hatten noch nicht genug gearbeitet, und zehn Jahre später war es zu spät, die meisten Protagonisten lebten nicht mehr oder waren sehr alt. Claude Lanzmann ging das Thema an, indem er den einzig möglichen Zugang fand, im alpinistischen Sinne des Wortes, indem er streng moralischen Regeln folgte und Voyeurismus vermied. Kein Schuss, keine Gewalttat, keine Leiche, sondern Tränen, "Tränen aus Blut", wie Claude Lanzmann sagte, die in ihrer Weise absolut die Wahrhaftigkeit des Ereignisses bezeugen, für das es keine Spuren gibt.
Gibt es einen Teil aus dem Film, der Sie ganz besonders bewegt?
Lanzmann: Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, da ich dazu neige, den Film in seiner Gesamtheit zu erfassen, und wenn ich einmal anfange, ihn anzuschauen, kann ich nicht mehr aufhören. Ich weiß nicht genau, wie oft ich den Film gesehen habe, mehrere Dutzend Mal. Bei jedem Mal entdecke ich neue Dimensionen, neue Details, die ich vorher nicht bemerkt habe. Das macht auch den Reichtum des Films aus, der ab zwölf Jahren gesehen werden kann. Jede Person versteht, was man in dem Moment, in dem man ihn sieht, verstehen kann, und dann sieht man ihn wieder, und versteht andere Dinge auf anderen Ebenen. Es ist ein Film, dessen Rhythmus zu einer echten Meditation führt, die sich auf den Holocaust konzentriert.
Natürlich sind einige Passagen besonders stark, die bekanntesten sind Abraham Bomba, der Friseur, der vor der Vergasung die Haare der zu Tötenden schneiden musste und der den Moment schildert, als er die Frauen aus seinem Dorf in die Gaskammer kommen sah. Simon Srebnik vor der Kirche inmitten der Polen, Filip Müller, der die Geschichten der im Lager vergasten Familien zeitversetzt erzählt, Jan Karski, der von seinen beiden Besuchen im Warschauer Ghetto berichtet.
Es gibt jedoch eine Stelle, die mich besonders berührt: Es ist vor dem Bahnhof Sobibor, auf einer Bank sitzend, Jan Piwoński, Barbara Janicka, die Dolmetscherin für Polnisch, und Claude Lanzmann sprechen über die Ankunft des ersten Transports im Bahnhof Sobibor und die Schreie, das Bellen und den Tumult, das Verschwinden der Passagiere des Transports, gefolgt von einer plötzlichen "idealen" Stille. Claude Lanzmann lässt übersetzen: "War es die Stille, die ihn verstehen ließ?". Dann eine Lanzmannsche Frage: "Kann er diese Stille beschreiben?". Ich ließ diese Frage auf dem Grab unseres Sohnes und meines Mannes eingravieren.
Mit der Stiftung Claude und Felix Lanzmann engagieren Sie sich für das Gedenken an die Shoah und die von Ihrem Ehemann begonnene Arbeit dazu. Welche Projekte führt die Stiftung derzeit durch und plant diese für die Zukunft?
Lanzmann: In der unmittelbaren Zukunft bereiten wir den 100. Geburtstag von Claude Lanzmann am 27. November 2025 vor. Außerdem kümmern wir uns um das gesamte Werk von Claude Lanzmann, alle seine Filme, Bücher und Artikel, das Archiv der Zeitschrift "Les Temps Modernes", an der er 66 Jahre lang beteiligt war und die er 32 Jahre lang leitete, seine Reportagen als Journalist, seine Briefwechsel mit den größten Intellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sein Familienarchiv.
Mittelfristig ist unser Hauptprojekt in Bezug auf "Shoah" das pädagogische Projekt, das mein Mann 2001 mit dem französischen Bildungsministerium initiiert hat. Da ein neuneinhalb stündiger Film nicht einfach in Schulen gezeigt werden kann, hatte mein Mann zugestimmt, Ausschnitte von etwa einer halben Stunde auszuwählen, sechs Ausschnitte, von denen jeder von einem Lehrer während einer Unterrichtsstunde gezeigt werden kann. Ein pädagogisches Buch, das von dem Historiker Jean-François Forges verfasst wurde, begleitet die Ausschnitte und hilft den Geschichts-, Philosophie- oder Sprachlehrern, Fragen und Antworten für die Schüler vorzubereiten. Vor zwei Jahren habe ich die Rechte an diesen sechs Auszügen an die Plattform Lumni Enseignement erneuert, die in Frankreich vom Bildungsministerium mit der restaurierten Version von "Shoah" im Jahr 2013 genutzt wird.
Die Stiftung würde es begrüßen, wenn dieses pädagogische Instrumentarium in möglichst viele Sprachen übersetzt werden könnte und Schülern auf der ganzen Welt zur Verfügung stünde.
Unser Ziel ist es, das Archiv von Claude Lanzmann für Forscher und ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Wir werden dazu eine umfassende Website entwickeln.
Die Verleger meines Mannes bereiten für das hundertjährige Jubiläum Sonderausgaben vor, insbesondere Fayard bereitet eine Ausgabe des Buches "Shoah" vor, angereichert mit einem Nachwort über die Geschichte der Aufnahme in die UNESCO, die an sich ein echtes Abenteuer war. Es werden die zwanzig Unterstützungsbriefe veröffentlicht, die ich erhalten habe. Ich werde den Verlag bitten, auch eine deutsche Ausgabe zu machen und Ausgaben in weiteren Ländern.
Les Films Aleph, die Produktionsfirma, die mein Mann 1973 für die Produktion von "Shoah" gegründet hat und deren Geschäftsführerin ich heute bin, produziert in Zusammenarbeit mit Les Films du Poisson einen Film von Guillaume Ribot zum 100. Jahrestag, der auf dem gedrehten Material von "Shoah" und der Autobiografie meines Mannes, "Der patagonische Hase", beruht. Dieser Film wird sich mit der Entstehung von "Shoah" befassen. Die Veröffentlichung dieses Films wird eine Schlüsseletappe aller Veranstaltungen zur Hundertjahrfeier sein.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft und die Zusammenarbeit mit der UNESCO?
Lanzmann: Da Bildung und Kultur zwei Säulen der UNESCO sind, zähle ich darauf, dass die UNESCO bei dem weltweiten pädagogischen Projekt zur Aufklärung über den Holocaust durch den Film "Shoah" hilft, um im weiteren Sinne gegen Antisemitismus aufzuklären und die Entmenschlichung der jungen Generationen zu verhindern.
Ich hoffe, dass Deutschland dabei helfen wird, dieses pädagogische Projekt mit den Auszügen aus "Shoah" in möglichst vielen Ländern und Sprachen umzusetzen. Es wäre logisch, wenn die gemeinsame Eintragung von "Shoah" in das internationale Register des Weltdokumentenerbes in eine erneuerte und dauerhafte Zusammenarbeit münden würde. Dies hat im aktuellen europäischen Kontext viel Sinn, und auch im Kontext der UNESCO. Frankreich und Deutschland gehen mit gutem Beispiel voran.
Das Interview wurde im März 2024 für das Jahrbuch der Deutschen UNESCO-Kommission (erschienen im Juni 2024) schriftlich geführt.
Witnesses to the History of Shoah. Making Their Voices Accessible
2021 übergab Dominique Lanzmann (für die Stiftung Claude und Felix Lanzmann) dem Jüdischen Museum Berlin einen Bestand von 123 Tonband-Kompaktkassetten als Schenkung. Die bisher unbekannten Aufnahmen mit einer Gesamtlaufzeit von über 220 Stunden dokumentieren Gespräche von Claude Lanzmann und seinen Assistentinnen mit Überlebenden, Zivilistinnen und Zivilisten, Museumsdirektorinnen und -direktoren, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Widerstandskämpferinnen und -kämpfern, Geistlichen, Intellektuellen, Politikerinnen und Politikern, deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern, Historikerinnen und Historikern sowie Täterinnen und Tätern. Die meisten der Aufnahmen entstanden zwischen 1975 und 1978 und dokumentieren damit die Recherchen zur Vorbereitung von Claude Lanzmanns Werk “Shoah”. Sie sind wertvolle Quellen zur Entstehungsgeschichte des Films. Darüber hinaus stellen sie einen außergewöhnlichen Bestand an nicht standardisierten Augenzeugenberichten dar.
Aufgrund der Fragilität der Sammlung hat das Jüdische Museum Berlin unmittelbar nach der Schenkung die notwendigen Sicherungsmaßnahmen eingeleitet. Alle notwendigen restauratorischen Maßnahmen und die professionelle Digitalisierung der Aufnahmen sind abgeschlossen. Es steht außer Frage, dass die Einzigartigkeit und Authentizität der Aufnahmen, die am 18. Mai 2023 in das internationale Register des UNESCO-Weltdokumentenerbes “Memory of the World” aufgenommen wurden, eine zeitnahe Bereitstellung für Menschen auf der ganzen Welt erfordern.
Das Projekt “Witnesses to the History of Shoah. Making Their Voices Accessible” widmet sich deshalb seit April 2024 der Erschließung, Vermittlung und Präsentation des Bestandes. Dank der umfangreichen Zuwendung der Alfred-Landecker-Stiftung können zunächst Transkripte der Gesprächsmitschnitte in verschiedenen Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Jiddisch und Polnisch – erstellt werden, auf deren Grundlage eine vollständige deutsche und englische Übersetzung angefertigt wird. Zusätzlich werden Recherchen durchgeführt zu den Aufnahmesituationen, Personen und historischen Ereignissen, auf die inhaltlich verwiesen wird. Ziel ist es, das gesamte Audio-Archiv digital recherchierbar und kontextualisiert öffentlich zugänglich zu machen. Dies geschieht auch im Wissen, dass das Ende der Zeitzeugenschaft unmittelbar bevorsteht und diese Aufnahmen eine unverzichtbare Ergänzung unseres Wissens über den Holocaust darstellen.
Darüber hinaus wird das Audio-Archiv 2025 im Rahmen einer Sonderausstellung im Jüdischen Museum Berlin präsentiert und seine Inhalte für Bildungsprogramme und Forschungszwecke aufbereitet. In Kooperation mit dem Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg soll die wissenschaftliche Erforschung des Materials mit einer Konferenz und einer Publikation angestoßen werden. Der 100. Geburtstag von Claude Lanzmann im Jahr 2025, der auch den 40. Jahrestag der Veröffentlichung des Films und den 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager markiert, hat das Potenzial, die globale Gemeinschaft mit neuen digitalen und Vor-Ort-Programmen zu erreichen und dem Projekt eine deutliche Wahrnehmung und kommunikative Präsenz zu sichern.
Videos zum Dokumentarfilm "Shoah" von Claude Lanzmann bei YouTube und Archive.org.