Zwischenstaatlicher Ausschuss Immaterielles Kulturerbe 2023
Neuaufnahmen in den UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes 2023
Vom 4. bis 9. Dezember 2023 tagte der Zwischenstaatliche Ausschuss für Immaterielles Kulturerbe in Kasane, Botswana. Der Ausschuss beriet unter anderem darüber, welche Kulturformen und Modellprogramme in die internationalen UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen werden. Deutschland war an drei Nominierungen beteiligt: das Hebammenwesen, die manuelle Glasfertigung und die traditionelle Bewässerung wurden in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit eingetragen.
Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes
Die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit zeigt beispielhaft die weltweite Vielfalt des Immateriellen Kulturerbes. Auf seiner 18. Sitzung hat der Zwischenstaatliche Ausschuss folgenden Kulturformen aufgenommen:
Kunst, Fertigkeiten und Praktiken im Zusammenhang mit der Metallgravur (Gold, Silber und Kupfer) (Ägypten, Algerien, Irak, Jemen, Marokko, Mauretanien, Palästinensische Gebiete, Saudi-Arabien, Sudan, Tunesien)
Bei den Metallgravuren werden symbolische Figuren, Namen, Koranverse, religiöse Sprüche oder dekorative Elemente mit einem scharfen und präzisen Werkzeug in metallisches Material (Gold, Silber, Kupfer) eingebracht. Einige Produkte wie Schwerter oder Dolche lassen bevorzugt Männer gravieren. Die Weitergabe erfolgt innerhalb von Familienstrukturen oder in formellen Handwerksausbildungen. Die Gravuren reflektieren religiöse Zugehörigkeit, geographische Herkunft und sozialen Status der Gruppe der Trägerinnen und Träger.
Transhumanz, die jahreszeitlich bedingte Weidehaltung (Albanien, Andorra, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Luxemburg, Österreich, Rumänien, Spanien) – Erweiterung
Der saisonale Viehtrieb wird jedes Jahr im Frühling und Herbst von Hirtinnen und Hirten mit Hunden, Pferden und manchmal begleitet von ihren Familien durchgeführt. Tausende von Nutztieren werden horizontal (Flachland) oder vertikal (Berge) in fruchtbares Weideland getrieben, was jahrhundertealtes überliefertes Wissen erfordert, wie z.B. Tierzucht, Hundetraining, Land-, Wald- und Wassermanagement, meteorologisches Wissen. Transhumanz ist mit Bräuchen und Festivals verbunden, wie der Herstellung von Lebensmitteln, Handwerk und Festlichkeiten. Weitergegeben wird die Praktik häufig innerhalb der Familien, mittlerweile auch an Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Die Praktik fördert den sozialen Zusammenhalt und kulturelle Identität.
Sona, Zeichnungen und geometrische Figuren auf Sand (Angola)
Sona sind geometrische Sandmalereien des Cokwe-Stammes in Ost-Angola und benachbarter Völker. Auf nassem, mit Sand bedecktem Boden werden Referenzpunkte gesetzt, um die mit Linien mit den Fingern gezeichnet werden. Die Zeichnungen dienen der Kommunikation und sind Ausdruck von Glauben, Gedanken, Gefühlen und repräsentieren die Verbindung von Mensch und Natur sowie das kollektive Gedächtnis Angolas. Vermittelt wird die Praktik an junge Männer bei Initiationsriten und von Künstlern. Hinzu kommen seit den 1980ern Analysen der Wissenschaft zu dem ethnomathematischen Wissen der Sona. Während Sona durch Urbanisierung und das Verschwinden der Initiationsriten bedroht ist, geben die dekorativen Künste sowie die Wissenschaft neuen Aufschwung.
Tradition des Schmiedehandwerks in Gyumri (Armenien)
Manuelles Schmieden war in Armenien sehr weit verbreitet bis zur Industrialisierung, in der es durch fabrikfertige Materialien ersetzt wurde. Als Alltagspraktik existiert es heute nur noch in der Stadt Gyumri. Die Praktik erfordert Wissen und Können hinsichtlich technischer Komponenten des Schmiedens, künstlerischer Verarbeitung des Eisens, Weitergabe von Fertigkeiten und die Bereitschaft innerhalb der Bevölkerung, die Produkte zu kaufen beziehungsweise zu benutzen. Die Praktik formt die kulturelle Identität und die Architektur der Stadt: Fensterrahmen, Zäune, Eingangstore, Kerzenhalter, Kronleuchte unter anderem sind handgeschmiedet. Weitergegeben wurde die Praktik bisher an die männlichen Familienmitglieder, organisiert nach Alter der Lernenden. Durch die institutionelle Wissensweitergabe können nun auch Frauen die Praktik erlernen.
Kunst der Illumination: Təzhib/Tazhib/Zarhalkori/Tezhip/Naqqoshlik (Aserbaidschan, Iran, Tadschikistan, Türkei, Usbekistan)
Die Buchmalerei mit traditionellen Motiven unterschiedlicher Farbe wurde beispielsweise im Iran schon in vor-islamischer Zeit praktiziert. Heute kommt sie in den Staaten häufig zum Verzieren von Koranseiten, Heiratsurkunden und Verträgen und zur mentalen Erholung oder als Ausdruck von Kreativität zur Anwendung. Die Motive werden mit einer Nadel in das Papier gedrückt und mit Blatt- oder Flüssiggold sowie weiteren Farben von männlichen und weiblichen Praktizierenden ausgemalt. Die Praktik ist eng mit dem Glauben verbunden und kommt bei der Restaurierung von historischen Manuskripten zum Einsatz.
Iftar/Eftari/Iftar/Iftor und seine soziokulturellen Traditionen (Aserbaidschan, Iran, Türkei, Usbekistan)
Das Fastenbrechen wird am Ende des Ramadans nach Sonnenuntergang von Familien zu Hause oder von größeren Gruppen in Restaurants, Moscheen oder an öffentlichen Orten praktiziert. Das Fest symbolisiert das Ende der Fastenzeit und bringt muslimische Gemeinschaften unabhängig von Geschlecht, Ethnie oder geographischer Herkunft zusammen. Die Praktik wird regional sehr unterschiedlich ausgeführt, enthält meist Elemente wie Abendgebet, Musik und Gesang, Geschichtenerzählen, traditionelles Essen, Spiele, gemeinsames Kochen oder Arrangieren von Hochzeiten. Oft werden öffentliche Feiern von Regierungen, NGOs oder Wohltätigkeitsverbänden unterstützt, Spenden von Essen, Geld oder Kleidung sind üblich.
Handwerk und darstellende Kunst von balaban/mey (Aserbaidschan, Türkei)
Das Holzblasinstrument besteht aus drei Teilen, die aus unterschiedlichen Holzarten hergestellt werden: Spielrohr, Rohrblättern und einem Ring, der die Blätter zusammenhält. Die Herstellung und das Spielen erfordern Handwerks- und Naturkenntnisse, die meist innerhalb von Familien, vermehrt auch an Bildungseinrichtungen gelehrt werden. Das Instrument wird meist von Männern als Solo-, Orchester- oder Bandinstrument auf Festivals, Hochzeiten oder anderen sozialen Anlässen gespielt. Der Klang wird häufig mit einer menschlichen Stimme verglichen und das Spiel trägt zur kulturellen Identität bei.
Handwerk der Perlmutt-Intarsien (Aserbaidschan, Türkei)
Für die Herstellung von Perlmutt-Intarsien wird aus Muscheln Perlmutt gewonnen und in Formen geschnitten. Diese werden in ein Holzstück eingesetzt, in das vorher Motive eingeschnitzt wurden. Die Intarsien verzieren verschiedene Gegenstände wie Koran-Boxen, Fenster, Türen, Pulte, Spiegel oder Musikinstrumente. Zu den notwendigen Fertigkeiten bei der Herstellung zählen Design, Schnitzen, Kalligraphie, Verzierung, Lackieren sowie Restaurieren. Geteilt wird Kunsthandwerk-Wissen auch über Social Media, Online Blogs, Forums und Workshops. Außerdem drücken die Arbeiten Identität und Kreativität aus und werden auch auf Festivals und in Galerien ausgestellt.
Shuwalid-Festival (Äthiopien)
Shuwalid ist ein Festival der Harari, das an Schreinen und anderen religiösen Orten in Harar und Jugal stattfindet, anlässlich des Endes des 6-tägigen Fastens, mit dem das Auslassen von Ramadan-Fastentagen kompensiert wird. Gebete, Lobgesänge, Lesen von Schriften, Klatschen, Holzinstrumente, Trommeln, Tanz, bunte Kleidung und besondere Frisuren sind zentrale Elemente. Männer und Frauen tanzen separat. Shuwalid ist ein Medium der Transmission von Normen, Werten und kultureller Identität. Das Fest ist eine Plattform für die Weiterentwicklung darstellender Künste, mündlicher Traditionen und bietet Verdienstmöglichkeiten für Handwerk und Gastronomie.
Junkanoo (Bahamas)
Junkanoo wurde vor 200 Jahren von afrikanischen Sklaven auf die Bahamas gebracht und ist heute das größte nationale Fest, das auf mehreren bahamischen Inseln gefeiert wird. Hauptelement sind Paraden, neben Musikperformances, Geschichtenerzählen, Akrobatik und Handwerkskünsten. Bahamische Trommeln, Nebelhörner, Muschelhörner, Pfeifen und Kuhglocken kommen zum Einsatz, farbenfrohe Kostüme werden aus Pappe und Krepp-Papier gefertigt. Eine große Varianz an Rollen wird definiert (Marshalls, Richter, Zeitmesser, etc.), die mittlerweile gleichberechtigt von Männern und Frauen ausgeführt werden. Junkanoo ist Ausdruck bahamischer Identität auch in Diaspora-Gemeinschaften sowie eine Feier von Solidarität und Kreativität.
Rikschas und Rikscha-Malerei in Dhaka (Bangladesch)
Während die Rikscha in Süd- und Südostasien verbreitet ist, wird Rikscha-Malerei als dekorative Kunst hauptsächlich in Dhaka ausgeübt. Jeder Part des dreirädrigen Transportmittels ist bemalt und dekoriert mit Lametta, Glitzerschmuck oder Plastikblumen. Weil sich Rikschas langsam fortbewegen, sind die Kunstwerke für Passanten gut zu erkennen und die vielen Rikschas bilden eine umherfahrende Kunstausstellung als mobiles Panorama des städtischen Lebens. Die Weitergabe der Praktik erfolgt durch Nachahmung, hat Einzug in Filme und Galerien gefunden und besitzt eine große identifikatorische Bedeutung für die Menschen vor Ort.
Traditionelle Bewässerung: Wissen, Technik und Organisation (Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweiz)
Die traditionelle Bewässerung nutzt die Gravitationskraft um Wasser durch Kanäle und Gräben von natürlichen Quellen zu landwirtschaftlichen Flächen zu leiten. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der natürlichen Landschaft, der Fließeigenschaften des Wassers, der Wetterbedingungen sowie die enge Zusammenarbeit von Bauern, Landbesitzern, Freiwilligen, Kooperativen, Gemeinden und Vereinen. Wissen und Können werden teils mündlich und teils schriftlich, meist innerhalb von Familien und Gemeinden weitergegeben. Um die Organisation zu vereinfachen, wurden Regelsysteme (Wasserbriefe) eingeführt. Zusätzlich arbeiten Forschungsinstitute eng mit den Praktizierenden zusammen. Die traditionelle Bewässerung stiftet Identität und verbindet Mensch und Natur und ermöglicht nachhaltige, biodiverse und energie-autarke Landwirtschaft.
Ch'utillos, das Fest von San Bartolomé und San Ignacio de Loyola, das Treffen der Kulturen in Potosí (Bolivien)
Das Ch'utillos Festival repräsentiert das kulturelle Erbe der Q’ara Q’ara, einer indigenen Gruppe. Das Fest ist eine Mischung aus präkolonialen Riten und dem katholischen Glauben. Zu Beginn eines neuen landwirtschaftlichen Zyklus werden Paraden zu einer Höhle mit Kindern und Erwachsenen zu Ehren des Heiligen Bartolome und Ingacio de Loyola abgehalten, begleitet von Bands und Tanzenden, Essensständen und mündlichen Traditionen. Viele indigene Gruppen kommen aus mehr als 200 km Entfernung zusammen, um ihre kulturelle Diversität gemeinsam zu feiern.
Traditionelle Kunst des Lendenschurz-Webens (Côte d‘Ivoire)
Lendenschurze werden von unterschiedlichen Stämmen einer ethnolinguistischen Gruppe in Côte d‘Ivoire auf vielfältige Art mit verschiedenen Materialien gewebt. Baumwolle unterschiedlicher Farbe wird kombiniert mit der Technik des Handwebens, Raffiabast an einer Holzstange mit einem Löffel bearbeitet und andere nähen und bemalen die Stoffe mit der Hand. Der Lendenschurz bleibt entweder in der natürlichen Farbe des Rohmaterials oder wird bunt gefärbt beziehungsweise mit kosmologischen oder symbolischen Figuren bemalt und häufig zu zeremoniellen Anlässen getragen. Die Kleidung hat oft rituelle Bedeutung, der soziale oder spirituell-religiöse Status ist mit Art oder Bemalung assoziiert.
Hebammenwesen: Kenntnisse, Fähigkeiten und Praktiken (Deutschland, Kirgisistan, Kolumbien, Luxemburg, Nigeria, Slowenien, Togo, Zypern)
Hebammen begleiten Frauen und Familien durch verschiedene Phasen der Schwangerschaft bis hin zur Geburt und Elternschaft. Das Hebammenwesen erfordert eine große Bandbreite an (traditionellem) Wissen, Erfahrung und Intuition, was, je nach staatlichem System informell, non-formal und formal erworben wird. Hebammen bieten physische, emotionale und informative Unterstützung, während das Hebammenwesen für lebensändernde Wandlungsprozesse, menschliche Beziehungen, Menschenrechte, sowie Partnerschaft steht und auf der ganzen Welt mit rituellen und symbolischen Praktiken verbunden ist. Es ist immaterielles Kulturerbe der gesamten Menschheit.
Wissen, Handwerkstechniken und Kenntnisse der manuellen Glasfertigung (Deutschland, Finnland, Frankreich, Spanien, Tschechien, Ungarn)
Die manuelle Glasfertigung wird in den beteiligten Staaten in unterschiedlicher Weise und Intensität praktiziert. In der Regel erfordert die Herstellung von Hohl- und Flachglas die Vorbereitung des Rohstoffes, die Formung des Glases während es erhitzt wird, sowie die Weiterverarbeitung und Dekoration im abgekühlten Zustand. Der Großteil arbeitet in mittelgroßen Werkstätten, im Bereich der Schmuckherstellung und bei Kalt-Glastechniken oft individuell in Glasstudios. Bei der Glasfertigung sind die beteiligten Menschen aufeinander angewiesen und stehen auch international in regem Austausch. Spezielles Vokabular, festliche Anlässe und religiöse Funktionen sind mit der manuellen Glasfertigung verbunden sowie der Ausdruck individueller Kreativität.
Traditioneller Holzbootbau auf Carriacou und Petite Martinique (Grenada)
Der Bootsbau wird in der gesamten Karibik praktiziert, jedoch unterscheiden sich in Grenada und Petite Martinique die Art, wie die Boote zu Wasser gelassen werden. Nach Fertigstellung wird das Boot getauft und gesegnet, anschließend werden mit Ritualen die Vorfahren milde gestimmt und um ruhige See gebeten. Abschließend spielt eine Band und es wird in einer Festivalatmosphäre getrommelt, getanzt, getrunken und gegessen. Kinder unter 8 Jahren enthüllen den Namen des Bootes. Da Boote als Teil der Familie betrachtet werden und sich die ganze Gemeinde am Bau beteiligt, hat das Ritual eine soziale Funktion und stärkt das Gemeinschaftsgefühl.
Garba von Gujarat (Indien)
Garba wird in Gujarat anlässlich des 9-tägigen Hindu-Festivals Navaratri zur Ehrung von Shakti getanzt. Der rituelle Tanz ist kultureller, performativer und visueller Ausdruck der weiblichen Energie und wird im Kreis rund um einen Tontopf mit Öllampe oder ein Bild der Göttin Amba getanzt. Begleitet von der traditionellen Trommel ‚dhol‘ bewegen sich die Tanzgruppen klatschend und singend gegen den Uhrzeigersinn. Ursprünglich wurde der Tanz nur von Frauen praktiziert, heute steht er Jung und Alt, allen Kasten, Transgender und körperlich eingeschränkten Personen offen. Musik, Poesie, Töpferei, Teppichherstellung oder Schmiedehandwerk sind ebenfalls Teil des Festivals. Die Praktik wird durch Nachahmen und an Schulen, Unis sowie in professionellen Kursen für Tanz, Kostüm & Ornamentik weitergegeben.
Jamu-Wellness-Kultur (Indonesien)
Seit dem 8. Jahrhundert wird Jamu als Naturmedizin in Indonesien praktiziert, meist in Form von Getränken aus Kräutern und traditionellen Behandlungen. Entstanden aus der Beobachtung von kranken Menschen und Tieren sowie basierend auf spirituellem Glauben liegt der Praktik die Überzeugung zugrunde, dass ‚heiße‘ Krankheiten mit Medikamenten ‚kalter‘ Natur und umgekehrt behandelt werden müssen. Gesundheit entsteht durch eine Balance zwischen heißen und kalten Elementen im Körper. Die Medizin wird entsprechend der 8 Lebensphasen des Menschen und der individuellen Beschwerden hergestellt. 59% der Bevölkerung Indonesiens konsumieren hauptsächlich drei verschiedene Arten von Jamu und lernen die Zubereitung von ihren Eltern, der Nachbarschaft, in Familien und mittlerweile auch an Universitäten, oder online über „jamupedia.“
Traditionelle handwerkliche Fertigkeiten und Kunst des Al-Mudhif-Gebäudes (Irak)
Al-Mudhif ist ein großes gewölbtes Gebäude aus im südlichen Irak gedeihenden Schilf und Papyrus, das als Versammlungshaus für Diskussionen innerhalb der Gemeinschaft, Konfliktlösungen, für soziale Rituale wie Hochzeiten, nationale Feierlichkeiten und religiösen Zeremonien dient. Die Praktik umfasst Bautechniken, Tätigkeiten wir Schilf sammeln und Handwerk wie Teppichweberei. Sie wird mündlich, aber auch durch Zeichnungen und Inschriften auf Tonplatten weitergegeben. Geschichten und Legenden befassen sich damit. Heutzutage werden auch Fotos, Videos und Social Media für die Weitergabe genutzt. Die Praktik basiert auf kollektiver freiwilliger Arbeit. Sie bringt alle Menschen eines Ortes zusammen und spiegelt die Beziehung zwischen Kultur und Umwelt wider.
Sadeh-/Sada-Feier (Iran, Tadschikistan)
Am 30. Januar, nach Ende der kältesten Wintertage und wenn die Felder neu bestellt werden, wird Sadeh/Sada in ganz Tadschikistan und von zoroastrischen und muslimischen Gruppen im Iran gefeiert. Es wird drinnen und draußen gefeiert, gesungen, getanzt sowie am Feuer gebetet, frische und getrocknete Früchte und Süßigkeiten gegessen. Es gibt Gartenausstellungen, sowie den Verkauf von Samen, Setzlingen und Werkzeugen. Durch das Fest werden landwirtschaftliches Wissen und Abläufe von Anbau und Ernte an die folgenden Generationen vermittelt und Menschen unterschiedlicher Hintergründe zusammengebracht.
Die Praxis des Operngesangs (Italien)
Operngesang bezeichnet ein physiologisch stark kontrolliertes Singen, bei dem die Tragkraft der Stimme verstärkt wird durch den akustischen Raum und die synergetische Interaktion zwischen Atmung, Kehlkopf und Vokaltrakt in Kombination mit der Artikulation von Sprache. Die Oper ist eine Kombination aus Orchestermusik, Gesang, Inszenierung und Schauspiel. Die Weitergabe erfolgt ausschließlich oral und durch Nachahmung, in der Regel im Einzelunterricht und abgestimmt auf das individuelle Können. Die Wechselseitigkeit zwischen Gesangsperformance und akustischem Raum schafft eine physische und emotionale Resonanz, die sogar therapeutische und rehabilitative Effekte haben kann.
Nguon, Rituale des Regierens und damit verbundene Ausdrucksformen in der Gemeinschaft der Bamoun (Kamerun)
Nguon ist ein soziopolitisches Ritual der Bamoun in West-Kamerun, bei dem alle zwei Jahre im Dezember der oder die Vorsitzende die Gemeinden zu ihrem Zustand befragt. Nach nächtlichen geheimen Gesprächen im Königspalast tritt er oder sie am Folgetag vor das Volk, um sich wieder- oder abwählen zu lassen. Dann folgen Festlichkeiten und nach zwei Tagen hält er oder sie (wieder) Einzug in den Palast. Seit über 600 Jahren steht Nguon für sozialen Zusammenhalt, Resilienz und Werte wie Rechenschaftspflicht, Meinungsfreiheit und Ergebenheit. Während des Rituals werden Lebensmittel gespendet und traditionelle Medizin verteilt. Mittlerweile wird es in der Schule und in den Medien an folgende Generationen weitergegeben.
Elechek-Kopfbedeckung: traditionelles Wissen und Rituale (Kirgisistan)
Elechek ist ein traditioneller kirgisischer Kopfschmuck, der aus einer Kappe und einer bis zu 40 Meter langen weißen Stoffbahn besteht, die turbanartig um den Kopf gewickelt, mit Stickereien und Schmuck besetzt von Frauen aus dem ländlichen Raum zum ersten Mal während der Hochzeit getragen wird. Das Legen des Elechek ist ein wichtiges Ritual der Hochzeitszeremonie, bei dem ausschließlich Frauen der Gemeinde im Haus der Braut zusammenkommen und Segnungen für das Paar singen. Der Elechek ist eine Form der traditionellen Kommunikation, denn man erkennt daran den Status einer Frau, in jeder Region wird er unterschiedlich gelegt. Er wird auch nach der Hochzeit getragen und später als Baby- oder Leichentuch verwendet.
Bolero: Identität, Emotionen und Poesie in Gesang umgesetzt (Kuba, Mexiko)
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Bolero zu einem der bekanntesten sentimentalen Musikstile in Lateinamerika mit Ursprüngen in Kuba, starker Verbreitung in Mexiko und als Amalgam europäischer und afrikanischer Musiktraditionen. Die Lieder haben einen lyrischen Charakter, wichtigstes Begleitinstrument ist die Gitarre oder requinto (hohe sechsseitige mexikanische Gitarre). Bolero wird aber auch am Klavier, mit Perkussion und Blasinstrumenten sowohl solo als auch in Bands gespielt. In Kuba wird er auch getanzt und häufig von den boleristas an öffentlichen Orten wie peñas aufgeführt, in Mexiko während musikalischen Versammlungen namens bohemias. Die Texte drehen sich um das Alltagsleben und haben daher ein hohes soziokulturelles Identifikationspotenzial.
Traditionelles Handwerk der Naga-Motivweberei (Laos)
Naga sind die spirituellen Vorfahren von Menschen in Laos, die in Flüssen lebten und ihre Nachfahren stets beobachten und schützen. Die Naga-Motive reflektieren diesen Glauben und werden mit der Hand in Stoffe eingewebt. Die Muster werden mittels eines traditionellen Holzwebstuhls und Bambusschiffchen in Seide, Organza oder Baumwolle gewebt und mit natürlichen Zutaten eingefärbt. Naga-Motive werden auf Babydecken genäht, bei Tempelzeremonien oder offiziellen Anlässen getragen, um böse Geister abzuwehren. Häufig werden Nagas für die eigene Beerdigung gewebt. Die Weitergabe erfolgt informell, in Ausbildungszentren oder durch mobile Teams, die das Wissen in ländlichen Regionen vermitteln. Naga-Motive finden sich auch an Haushaltsgegenständen, auf Dächern, Treppen, Kerzenhaltern und prägen so die kulturelle Identität Laos‘.
Al-Man'ouché, eine kulinarische Praxis (Libanon)
Al-Man’ouché ist ein Fladenbrot, das mit Thymian gewürzt und gegebenenfalls mit weiteren Zutaten im gesamten Libanon zum Frühstück oder mit Pasten als Vorspeise gegessen wird. Das Brot wird zu Hause oder in Bäckereien hergestellt, indem ein Teig aus Weizenmehl, Hefe, Zucker, Salz, Öl und Wasser mit der Hand oder elektrisch geknetet wird. Anschließend wird er auf einer gewölbten Metallplatte, in einem zylindrischen Backstein- oder Tonofen gebacken. Gegessen wird Al-Man’ouché zusammengeklappt mit den Händen, woher auch der Name stammt.
Sodai-Stroh-Gartenbau (Litauen)
Sodai sind hängende Gebilde aus Strohhalmen (meist Roggen), die aufgefädelt und zu geometrischen und räumlichen Figuren variierender Größe gefaltet und über Kinderwiegen, Hochzeits- oder Familientischen, bei Richtfesten oder zu Weihnachten aufgehängt werden. Sie symbolisieren Muster des Universums und werden mit Glück, Wohlergehen, Fruchtbarkeit und Wohlstand verbunden. Die Herstellung startet mit dem Säen des Getreides, der Ernte und Weiterverarbeitung bis hin zur kunstvollen Gestaltung der Sodai in individueller oder kollektiver Arbeit, die einen Sinn für Gemeinschaft und Vertrauen für alle Menschen schafft. Sodai-Herstellung wird als spirituelle Aktivität, als Form der Meditation und emotionaler Entspannung betrachtet. Die Praxis wird an Schulen und Workshops gelehrt, Sodai werden auch als Kunstobjekte ausgestellt.
Hiragasy, eine darstellende Kunst (Madagaskar)
Hiragasy ist ein performatives Ritual mit Gesangs-, Tanz- und Sprechelementen, das 1,5 Stunden dauert und bei dem sich zwei Personengruppen (‚troupes‘) gegenüberstehen. Gleichzeitig erfolgt eine definierte Abfolge von Trommeln, Einmarsch, Gesang und Ansprachen. Die Texte enthalten oft moralische Geschichten von Recht und Unrecht, die Musik wird extra komponiert und mit traditionellen Instrumenten wie Trommeln oder kleinen Geigen gespielt. Der Tanz enthält akrobatische Elemente. Ursprünglich war Hiragasy eine Form der Kommunikation zwischen Herrscher und Volk, aufgrund der Christianisierung wurde es zu einem religiösen Akt, heute ist es eine Art Lehrstück, das kulturelle Werte, Geschichte und Wissen an folgende Generationen weitergibt. Die Praktik wird aber hauptsächlich in den ländlichen Gebieten Madagaskars von den Merina und den Betsileo ausgeführt.
Village Festa, ein jährliches Dorfgemeinschaftsfest (Malta)
Die Festa ist ein jährliches Festival, das in Gemeinden und Städten in ganz Malta und Gozo zu Ehren der lokalen Schutzheiligen zwischen Ende April und Anfang Oktober meist eine Woche lang gefeiert wird. War die Festa im 16. Jahrhundert ein rein religiöses Fest, so wurde sie zunehmend säkularisiert und beinhaltet heute neben liturgischen Zeremonien in Kirchen auch das Auftreten von Marching Bands, das Dekorieren öffentlicher Plätze, Feuerwerk, den Verkauf von Süßigkeiten und eine große Abschlussparade, bei der eine Heiligenstatue in die Kirche getragen wird. Durch freundliche Rivalität zwischen Gemeinden, wo die schönste Festa gefeiert wird, wird die lokale Identität gestärkt. Die Praktik wird durch Mitmachen weitergegeben, einige Gemeinden organisieren Kinder-Festas, Frauen und Jugendliche haben eigene Fest-Kommittees.
Malhun, eine populäre poetische und musikalische Kunst (Marokko)
Malhoun ist eine Form des poetischen Liedes, dessen Hauptfokus auf den Texten liegt. Gesungen wird in arabischen und hebräischen Akzenten, wobei das poetische Metrum den Takt der Musik vorgibt. Die Gruppe der Trägerinnen und Träger praktizieren Malhoun mithilfe von Gesang, Musik, Poesie, Schriftstellerei, Instrumentenbau und Kostümbildnerei. Traditionelle Instrumente wie Laute, Violine, Rebab und Trommeln sind dabei besonders verbreitet. Die Texte der alten Meister werden mündlich übertragen, heute auch transkribiert und drehen sich um Themen wie Liebe, Natur, Religion oder überbringen moralische Botschaften und regen zum Diskurs an. Häufig wird Bezug genommen auf wichtige historische, politische oder soziokulturelle Ereignisse, wodurch Malhoun-Aufführungen das kollektive Gedächtnis der marokkanischen Gesellschaft formen.
Mahadra, ein Gemeinschaftssystem zur Weitergabe von traditionellem Wissen und mündlichen Äußerungen (Mauretanien)
Seit Jahrhunderten war Mahadra das primäre System zur Übermittlung von Wissen auf mündlichem Weg, heute existiert es parallel zum Schulsystem und steht allen Menschen Mauretaniens offen. In Zelten oder geschlossenen Räumen wird auf dem Boden sitzend meist mündlich oder mit Hilfe von Schreibbrettern Wissen über Sprache, Literatur, Poesie, Religion, Sufismus und Wissen um Natur wie Regen, medizinische Pflanzen, Astronomie oder Fährtenlesen vermittelt. Die Gemeinden organisieren ihre Mahadras selbst. Mahadra ist für sich ein Vermittlungssystem, in dem kulturelle Traditionen in einem physischen und sozialen Setting an jüngere Generationen weitergegeben werden und wird daher auch als „Universität der Wüste“ bezeichnet.
Rotterdamer Sommerkarneval (Niederlande)
Der Karneval findet jedes Jahr in Rotterdam statt, besteht aus einer Parade, einem Blasmusik-Wettbewerb und Märkten mit karibischen Essen und bringt viele Bevölkerungsgruppen mit Migrationsgeschichte, wie zum Beispiel Karibisch-Niederländische Gemeinschaften und Gruppen ohne Migrationsgeschichte zusammen. Der Karneval spiegelt die Diversität der Bevölkerung in den Niederlanden wider, bietet Raum für multikulturellen Ausdruck, fördert sozialen Zusammenhalt sowie Inklusion und veranschaulicht, dass und wie immaterielles Kulturerbe in Migrationsprozessen mitgenommen und in der neuen Umgebung weiterpraktiziert, gegebenenfalls adaptiert wird.
Sango-Festival, Oyo (Nigeria)
Das Festival wird zum Yoruba-Jahresbeginn (August) über 10 Tage lang vom Stamm der Oyo sowie von Gruppen der Diaspora gefeiert. Zu Ehren des dritten Königs des Oyo-Reiches wird eine Vielzahl von Riten, Magien, Lobgesängen, Trommel-, Gesang- und Tanzperformances in Verbindung mit traditionellem Handwerk zelebriert. Während eine Teilnahme allen Geschlechtern offen steht, sind Schlüsselrollen von Männern und Frauen bei der Durchführung festgelegt. Die Weitergabe erfolgt durch Mitmachen im Rahmen von Community Events, bei Gottesdiensten und innerhalb der Familie. Das Festival trägt zur sozio-kulturellen Interaktion und Geselligkeit in der Oyo-Community bei und hat eine spirituelle Funktion.
Harees-Gericht: Wissen, Fähigkeiten und Praktiken (Oman, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate)
Harees ist ein in den arabischen Golfstaaten weit verbreitetes Gericht aus Weizen, Fleisch und arabischem Ghee, das meist von mehreren Personen in großen Mengen über mehrere Stunden hergestellt wird. Harees wird zu Hause oder in Restaurants und Hotels oft zum Frühstück oder abends gegessen, aber auch bei feierlichen Anlässen, und während des Ramadans. Harees ist Thema vieler Gedichte, Sprichwörter und Lieder, ist ein Symbol für Gastfreundlichkeit und wird häufig von Kindern an Nachbarn übergeben als Zeichen der guten Nachbarschaft.
Dabkeh, traditioneller Tanz (Palästinensische Gebiete)
Dabkeh ist ein Gruppentanz, der begleitet von Gesang und Holzblasinstrumenten von 11 Personen während Festlichkeiten unterschiedlicher Art ausgeführt wird. Die tanzenden Menschen stehen in einer Reihe oder in einem Halbkreis und halten sich an den Händen oder Schultern, während sie sich gemeinsam bewegen, unter anderem auch springen. Volkslieder werden begleitend in lokalen Dialekten gesungen und entsprechen inhaltlich dem Anlass des Tanzes, der häufig spontan als Ausdruck von Freude initiiert wird. Die Weitergabe erfolgt informell durch Learning-by-Doing, aber auch in Workshops und Kursen. Die Praktik ist Ausdruck kultureller Identität, des Zelebrierens von Familienereignissen und verstärkt den sozialen Zusammenhalt.
Praktiken und Bedeutungen im Zusammenhang mit der Zubereitung und dem Verzehr von Ceviche, einem Ausdruck der traditionellen peruanischen Küche (Peru)
Ceviche besteht aus rohem mariniertem Fisch, Zitrone, Chili, Salz und lokal variierenden Zutaten. Die Zubereitung erfordert Wissen und Können aus den Bereichen Fischerei, Herstellung traditioneller Fisch- und Segelboote, Fischfang, Obst- und Gemüseanbau, Kochen und Gastronomie. Ebenso divers sind die Gruppen der Trägerinnen und Träger; letztendlich handelt es sich um einen Großteil der peruanischen Bevölkerung, die Ceviche als Teil ihrer kulturellen Identität verstehen. Die Praktik wird innerhalb von Familien und in Kursen weitergegeben. Ceviche wird zu Hause, bei Festlichkeiten und Ritualen sowie in Cevicherias konsumiert. Die Praktik trägt zur sozialen Nachhaltigkeit durch ihren hohen Identifikationsgrad bei, ernährt viele Familien und erfordert nachhaltige Fischerei und Landwirtschaft.
Piña-Handweberei in Aklan (Philippinen)
Piña (spanisch: Ananas) ist ein aus den Blattfasern der Ananas handgewebtes Textil, das von den Aklanon im Nordwesten der Insel Panay seit mehr als einem Jahrhundert auf unveränderte Weise hergestellt wird. Das Wissen und Können umfasst Ananas-Anbau, Extraktion und Weiterverarbeitung der Fasern sowie das Weben. Die Praktik steht theoretisch allen Personen offen, meist haben jedoch Männer und Frauen festgelegte Rollen. Die Weberei wird als Familienerbe betrachtet. Dementsprechend wird sie meist informell, mittlerweile aber auch modularisiert in der School of Living Traditions (SLT) weitergegeben. Der Stoff wird für die traditionelle formelle philippinische Tracht verwendet und die Muster ständig weiterentwickelt.
Polonaise, traditioneller Tanz (Polen)
Die Polonaise kann von einigen wenigen bis hin zu hunderten Menschen gleichzeitig getanzt werden, unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft und körperlicher Verfassung. Der Tanz wird in Paaren ausgeführt, die sich hintereinander aufstellen, wobei das erste Paar die Bewegungen vorgibt, angefangen beim einfachen Marschieren bis hin zu komplexeren Figuren wie Brücken etc. Durch Imitation kann der Tanz ohne Vorkenntnisse ausgeführt werden. Seit dem 18. Jahrhundert wird die Polonaise zu feierlichen Anlässen und spontan als Ausdruck der Freude getanzt, wodurch sie das Gemeinschaftsgefühl, die kulturelle Identität und das Bewusstsein für (Familien-)Geschichte stärkt. Die Polonaise transportiert Werte wie Solidarität, Gleichheit, Hoffnung und Optimismus.
Almsaison (Schweiz)
Seit dem Mittelalter werden zwischen Mai und Oktober Nutztiere in höhere Weidelagen getrieben, wo alpine Bauern und Bäuerinnen sich um die Herden kümmern, die Milch zu Käse verarbeiten und Gäste beherbergen. Almauftrieb und Almabtrieb sind mit Ritualen, Festen, Musik sowie landwirtschaftlichem Wissen verbunden, das meist innerhalb von Familien und gegebenenfalls an Schulen weitergegeben wird. Früher kamen bei der Ausübung unterschiedliche Geschlechterrollen zum Tragen, die sich heute zunehmend auflösen. Die Praktiken tragen zur Biodiversität bei und sorgen für Einkommen durch Verkauf lokaler Produkte und Tourismus. Die Alpsaison verbindet Bäuerinnen und Bauern mit Dorfbevölkerungen und nimmt als Identifikationsfaktor eine prominente Rolle in Literatur, Musik und Kunst ein.
Prozession und Feierlichkeiten zum Geburtstag des Propheten Mohammed (Sudan)
Die Feierlichkeiten werden im April anlässlich des Geburtstags des Propheten Mohammed über 12 Tage in allen großen Städten des Sudans gefeiert, mit Beteiligung von Männern, Frauen, Kindern sowie Vertretern des Sufi-Ordens, Koranschulen, Militär, Polizei und politischen Parteien. Sie beginnen mit einer Prozession, begleitet von religiösen Liedern, rituellen Tänze und Trommeln und enden mit einem Festival kultureller Performances, Essen und Süßigkeiten. Der staatliche Feiertag dient als Einkommensquelle durch den Verkauf von Essen, traditioneller Medizin und für Heiltraditionen.
Traditionelle Kenntnisse und Fertigkeiten bei der Herstellung von Atlas- und Adras-Geweben (Tadschikistan)
Seit dem Altertum werden die Stoffe Atlas und Adras, auch bekannt als Ikat, hergestellt. Atlas wird aus Seide und Adras aus Seide und Baumwolle mit vergleichbaren Webtechniken größtenteils von Frauen angefertigt und von selbigen bei festlichen Anlässen, beim Arbeiten, in der Schule und zu Hause getragen. Das Wissen und Können umfassen die Seiden- und Baumwollproduktion und -verarbeitung, das Spinnen und kunstvolle Weben. Die Weitergabe erfolgt entweder durch ein überliefertes System, bei dem eine Meisterin ihre Schülerinnen aussucht, oder heute in formellen Settings an Schulen und in Kursen.
Songkran, traditionelles Neujahrsfest (Thailand)
Wenn sich die Sonne in das Sternzeichen Widder bewegt, wird in buddhistischen Gemeinschaften in ganz Thailand (sowie in Thai Gemeinschaften im Ausland) für 3-7 Tage das Neujahresfest Songkran gefeiert. Während dieser staatlichen Feiertage besuchen die Menschen ihre Familien, ehren ältere Menschen, Vorfahren und heilige Buddha-Bilder. Sie dekorieren ihre Häuser und öffentliche Plätze, besuchen Tempel, spenden für Mönche und bauen Sandpagoden. Spritzen mit Wasser steht für Reinigung, Verehrung und gute Wünsche. Die Weitergabe erfolgt im Familienkreis, durch formelle und informelle Bildung, auf nationaler Ebene in Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie durch die Astrologie-Vereinigung. Das Fest stärkt Respekt vor dem Alter und Toleranz für alle Menschen.
Kunst der Akhal-Teke-Pferdezucht und Traditionen des Pferdeschmucks (Turkmenistan)
Achal-Tekkiner sind eine über 5000 Jahre alte turkmenische Pferdezucht, die nie mit anderen Pferderassen gekreuzt wurde. Daher unterscheiden sich Pferde in Größe (1,5-1,6 m), Ausdauer, Toleranz gegenüber trockenem und heißem Klima und der außergewöhnlichen Agilität und Schnelligkeit. Die Züchtungen werden hauptsächlich vom Staat und von Einzelpersonen mit dem Recht zum Pferdebesitz durchgeführt. Frauen nehmen zunehmend an der Praxis teil, sind meist im Herstellen des Zaumzeugs und weiterer Dekorationen involviert. Die Weitergabe erfolgt in einem mehrstufigen System angefangen beim Füttern und Reiten über Pferderennen bis hin zu Training und Zucht. Viele Riten sind mit der Zucht assoziiert unter anderem Hochzeiten, Wettbewerbe und Pferdeschmuck.
Keramikkunst (Usbekistan)
Glasierte und nicht-glasierte Keramiken kommen in Usbekistan als Kochutensilien in den meisten Haushalten im ländlichen Raum zum Einsatz. Farbe und Form variieren je nach Region und Schule. Heute entwickeln sich zunehmend kleine Haushaltsbetriebe. Die Weitergabe erfolgte bisher größtenteils innerhalb der Familie. Zusätzlich wird die Praxis an Kunsthochschulen, Unis, Workshops und Handwerksfestivals weitergegeben. Die Herstellung und der Verkauf sind wichtige Einkommensquellen und Teil des sozio-ökonomischen Lebens.
Dringend erhaltungsbedürftiges Immaterielles Kulturerbe
Mit der Liste des dringend erhaltungsbedürftigen Immateriellen Kulturerbes macht die UNESCO auf Wissen und Können aufmerksam, dessen Lebendigkeit bedroht ist. Folgende Kulturformen hat der Zwischenstaatliche Ausschuss 2023 neu in diese Liste aufgenommen:
Xeedho (Djibouti)
Xeedho bezeichnet Praktiken rund um die Zubereitung eines Essens mit Kamel- oder Rindfleisch, Datteln und Gewürzen durch die Schwiegermutter für den Schwiegersohn am 7. Tag nach der Hochzeit. Die Praktik hat nomadische Ursprünge und ist fester Bestandteil der Hochzeitszeremonien somalischer Gemeinschaften am Horn von Afrika. Sie dient der Stärkung des inner- und interfamiliären Zusammenhalts. Xeedho ist durch Globalisierungs- und Überalterungseffekte bedroht, verliert zunehmend an soziokultureller Bedeutung und wird seltener oder nur noch zu Konsumzwecken praktiziert.
Mek Mulung (Malaysia)
Mek Mulung ist eine Kombination aus Schauspiel, Gesang, Tanz und Musik und wird von 15-20 Personen in malayischen Trachten und Kostümen in offenen Scheunen aufgeführt. Früher wurden alle Charaktere von Männern gespielt, heute spielen auch Frauen mit. Dennoch überaltert die Gruppe der Trägerinnen und Träger und jüngere Menschen zeigen geringes Interesse an der Weiterführung. Unterrichtet wird Mek Mulung heute meist an Hochschulen. Die ursprünglich rein mündlich weitergegebene Tradition wird zunehmend verschriftlicht. Die mangelnde Weitergabe an die Jugend trägt zur Gefährdung bei. Außerdem stehen zu wenig Mittel für die Reparatur und Errichtung der Scheunen zur Aufführung bereit.
Ingoma Ya Mapiko (Mosambik)
Mapiko ist ein Tanzritual der Makonde, das anlässlich von Initiationsriten, bei Beerdigungen oder zur Unterhaltung praktiziert wird. Die Tanzenden sind als Menschen oder Tiere maskiert, bewegen sich im Rhythmus von Trommeln und dem Gesang sich gegenüberstehender Männer- und Frauenchöre. Ursprünglich nur Männern vorbehalten, existiert seit den 70er Jahren eine weibliche Variante des Tanzes. Die Weitergabe erfolgt im Geheimen während der Übergangsrituale von der Pubertät in das Erwachsenenalter. Bedroht ist die Praxis unter anderem durch lokalen Terrorismus (Mapiko-Festivals mussten abgesagt werden) und Emigration.
Traditionelle Techniken zur Herstellung des "Poncho Para'i de 60 Listas" aus der Stadt Piribebuy (Paraguay)
Der Poncho ist ein handgemachtes Baumwoll-Kleidungsstück, das aus drei unterschiedlichen handgewebten Teilen besteht. Innerhalb der Gruppe der Trägerinnen und Träger gibt es unterschiedliche Statusgruppen, je nach Umfang des Wissen, das mimetisch meist von Mutter zu Tochter übertragen wird, wobei jede ihren eigenen Web-Stil entwickelt. Der Poncho wird bei repräsentativen Anlässen in der Stadt Piribebuy getragen. Die Praktik ist bedroht durch Überalterung der Gruppe der Trägerinnen und Träger, mangelndes Interesse der jüngeren Generation (nur noch 2 aktive Meisterinnen und 10 Trainees), geringe Nachfrage aufgrund des hohen Kaufpreises, sowie mangelnde Kenntnisse der Vermarktung.
Traditionelle Glasbläserei (Syrien)
Die traditionelle Glasbläserei ist ein Kunsthandwerk, das in Syrien hauptsächlich in und um Damaskus praktiziert wird, vor dem Krieg auch in Aleppo und Idlib. Zu den lokalen Besonderheiten der Glasbläserei zählen unter anderem die Verwendung von lokalem Bruch-Glas als Rohstoff und die Nutzung der Farben Weiß, Blau, Grün, Purpur und Gold. Die generationenübergreifende Weitergabe erfolgt informell über ein größtenteils männliches Meister-Schüler-System, auch wenn Geschlechterrollen theoretisch nicht vordefiniert sind. Frauen kommen meist bei der künstlerischen Gestaltung der Objekte zum Einsatz. Mit den Produkten werden häufig Kirchen und Moscheen dekoriert, so dass die Glasbläserei mit spirituellen und historischen Orten assoziiert ist. Die Praktik ist akut bedroht durch die kriegsbedingte Emigration und die Zerstörung der Werkstätten sowie durch das allgemein nachlassende Interesse jüngerer Generationen.
Traditionelle Kenntnisse, Methoden und Praktiken des Olivenanbaus (Türkei)
Veredelung, Schnitt und Züchtung von Olivenbäumen sowie Ernte und Weiterverarbeitung der Oliven basieren auf überliefertem und lokal variierendem Wissen und Können. Die Weitergabe erfolgt meist in Familien mit klar definierten geschlechts- und altersspezifischen Rollen. Die Praktiken sind eng mit jahreszeitlichen Ritualen, Festen und darstellenden Künsten verknüpft und sorgen für den Lebensunterhalt vieler Menschen. Der Olivenanbau selbst ist in der Türkei nicht gefährdet, jedoch werden die überlieferten Praktiken zunehmend durch industrielle Produktion, Migration und chemisches Düngen verdrängt.
Register Guter Praxisbeispiele
Die ins UNESCO-Register Guter Praxisbeispiele aufgenommenen Modellprojekte zeigen, wie immaterielles Kulturerbe effektiv und mit innovativen Methoden erhalten, an kommende Generationen weitergeben und lebendig weiterentwickelt werden kann. Folgende Programme wurden 2023 in das Register aufgenommen:
Bewahrung des Pflege-Erbes in der barmherzigen Stadt Geel: ein gemeindebasiertes Pflegemodell (Belgien)
Die Stadt Geel ist seit 700 Jahren bekannt als „merciful city“ weil die Bevölkerung Menschen mit mentalen Einschränkungen aufnimmt und pflegt. Die Praktik geht darauf zurück, dass es in Geel einen Pilgerort für die Heilung psychischer Störungen gab, wobei die Pilger für einige Zeit als Gäste aufgenommen wurden. Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus ein medizinisch und wissenschaftlich begleitetes Modell der gemeinschaftsbasierenden psychiatrischen Pflege, dessen Bestandteile unter anderem Storytelling und die Ausrichtung von Festen sind. Die Psychiatric Family Foster Care (PFC) kombiniert überlieferte Praktiken mit neuesten medizinischen Erkenntnissen und ist ein Modell hinsichtlich der ethischen Standards und der Monitoring-Mechanismen.
Programm zur Erhaltung von Praktiken des immateriellen Kulturerbes für das kulturelle und ökologische Meeresschildkrötenfestival von Armila (Panama)
Um kulturelle Praktiken der Gemeinschaft Armilas zu stärken wurde ein Festival rund um die Eiablage der Lederschildkröte ins Leben gerufen. Da nach dem Glauben der Gemeinschaft Schildkröten verwandelte Menschen sind, wird ihnen traditionell bei der Rückkehr ins Meer geholfen. Das Festival ist ein Modell für die Entwicklung nachhaltiger Kreativindustrien, für lokale Produkte und Ökosysteme. Bildungselemente mit einem Fokus auf das Verhältnis der Menschen zu Natur sind zentral, das Festival soll nicht den Tourismus fördern, sondern wird für die Gemeinschaft selbst und benachbarte Gruppen veranstaltet. Ein „ICH green seal“ wurde aus der Praxis entwickelt, um andere Festivals in Panama mit besonders nachhaltigen und umweltfreundlichen Praktiken zu kennzeichnen.
Nyckelharpa-Netzwerk, eine innovative Verbreitung einer Musik- und Instrumentenbautradition (Schweden)
Die Nyckelharpa war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das von Bauern und Handwerkern am meisten gespielte Instrument in Nordschweden, bis es in den 1950ern nur noch 10 Praktizierende und wenige Instrumentenbauer gab, die das Instrument reparieren konnten. In den 70ern stieg das Interesse wieder und es formierte sich ein Netzwerk rund um die Musik und den Instrumentenbau, das heute in ganz Schweden und international arbeitet. Das Netzwerk ist informell, inklusiv und hat eine nicht-hierarchische Kultur des Wissensaustausches, organisiert Musikfestivals und Bildungsveranstaltungen, Kurse und Workshops. Das Netzwerk kann als Modell für andere Instrumente oder Handwerkstechniken fungieren hinsichtlich des Bottom-Up-Charakters, der Entwicklung von einer lokalen zu einer internationalen Initiative, der Mischung aus Erhalt und Innovation, oder auch des Zusammenwirkens diverser Stakeholder inklusive des Bildungssektors.
Programm zum Schutz der Bandos und Parrandas der Heiligen Unschuldigen von Caucagua: Kerne der Initiation und der Weitergabe von Weisheiten und Gemeinschaftsräten (Venezuela)
Bandos und Parrados sind Formen des Straßenkarnevals, die am 27. und 28. Dezember stattfinden und zurückgehen auf die Zeit der Sklaverei in Venezuela. Den Sklaven wurde ein Tag frei gegeben, aus dem heraus sich eine Praktik entwickelte, die die Herrschaftsverhältnisse mit Verkleidungen und Musikperformances satirisch umkehrte. Um die Vielzahl der Praktiken zu erhalten wurden „Nuclei of Initiation and Transmission of Wisdoms“ gegründet, die die mündliche Weitergabe fördern sowie demokratisch gewählte „Community Councils“, die Erhaltungsmaßnahmen entwickeln. Die Bottom-Up-Initiativen, in denen Frauen eine aktive Rolle einnehmen, können als Modelle zur Revitalisierung und Erhaltung von kulturellen Praktiken gesellschaftlich marginalisierter und historisch unterdrückter Gruppen dienen.