Auf ein Wort,
„Auch in Europa ist Bildungsgerechtigkeit keine Selbstverständlichkeit“
Jan Neumann
Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen
Herr Neumann, der Open Education Award in der Kategorie Open Innovation ging im vergangenen Jahr an die OER World Map. Was genau sind Open Educational Resources (OER)? Und wofür brauchen wir eine Weltkarte für OER?
OER sind Bildungsmaterialien jeglicher Art, wie zum Beispiel Arbeitsblätter, Schulbücher oder ganze E-Learning-Kurse, die sich durch eine offene Lizenz auszeichnen. Das funktioniert ganz ähnlich wie bei Wikipedia: Jeder darf sie nutzen und jeder darf sie verändern. Dadurch kann man mit OER viel mehr machen als mit herkömmlichen Bildungsmaterialien. Lehrer können das Material zum Beispiel verbessern oder an die unterschiedlichen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern anpassen. Spannend ist auch, wenn mit Hilfe von OER Lernende selbst zu Produzenten von Lernmaterialien werden. Hier bietet sich viel Raum für neue innovative, kollaborative Lehrkonzepte.
Mit der OER World Map versuchen wir, alle Personen und Organisationen sowie Aktivitäten im Bereich OER weltweit zu erfassen. Das vermutlich wichtigste Prinzip hinter OER ist das der Kooperation. Das fängt beim einzelnen Lehrer an, der ein Arbeitsblatt einer Kollegin nutzt, geht über Projekte, die ihre Ergebnisse untereinander austauschen, bis hin zu Staaten, die bei der Erstellung hochqualitativer OER-Kollektionen zusammenarbeiten. Kooperieren kann man aber nur, wenn man voneinander weiß. Genau hier setzt die OER World Map an.
Viele Menschen auf der Welt haben keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zu hochwertiger Bildung. Inwiefern können Open Educational Resources zur Chancengerechtigkeit im Bildungsbereich beitragen?
OER können aufgrund ihrer offenen Lizenz übersetzt, lokalisiert und mit anderen Materialien kombiniert werden. So können zum Beispiel die vielen in der Open Textbook Library enthaltenen Schulbücher an die verschiedenen lokalen Bedürfnisse weltweit angepasst werden. Ein anderes schönes Beispiel, das in diese Richtung weist, ist die Global Digital Library, die darauf abzielt, Materialien für Leseanfänger in möglichst viele Sprachen der Welt zu übersetzen. So kann der Zugang zu hochwertiger Bildung für viele Menschen erleichtert werden.
In vielen Regionen der Welt fehlt es jedoch an zentralen Grundvoraussetzungen für Bildung, insbesondere an ausgebildeten Lehrkräften und Schulgebäuden. Hier kann man natürlich nicht erwarten, dass OER von alleine alle Probleme löst. Aber: Jeder Euro, der hier nicht für Lehrmaterialien ausgegeben werden muss, kann zum Beispiel zum Aufbau eines Schulgebäudes verwendet werden.
Auch in Europa ist Bildungsgerechtigkeit keine Selbstverständlichkeit. Denken Sie nur an die hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern. Lehrmaterialien, die jungen Absolventen auch noch nach dem Verlassen von Bildungseinrichtungen zur Verfügung stehen, können wichtige Werkzeuge zur Verbesserung der Berufschancen sein. Die Beispiele zeigen: Langfristig würden wir zu gerechteren Bildungssystemen beitragen, wenn wir die Forderung, öffentlich finanzierte Materialien auch öffentlich zugänglich zu machen, endlich ernst nehmen würden.
Deutschland galt lange als Nachzügler im Bereich OER, seit einigen Jahren hat sich das Blatt jedoch gewendet: Wie würden Sie den Stand von OER in Deutschland heute beschreiben?
Ja, in Deutschland hat man das Thema später aufgegriffen als in anderen Ländern, wie zum Beispiel den USA, den Niederlanden oder Großbritannien. Aber es hat sich viel getan in den letzten Jahren seit dem UNESCO-Weltkongress zu OER 2012 in Paris. Wir haben inzwischen eine lebendige Landschaft von tollen Grasswurzel-Initiativen. Hinzu kommt, dass sich auch seitens der staatlichen Aktivitäten viel getan hat. Nicht zuletzt durch das OERinfo-Programm des BMBF hat man in unterschiedlichen Bildungssektoren damit begonnen, sich mit dem Thema OER zu beschäftigen.
Ich bin optimistisch, dass eine Initialzündung erfolgt ist und wir im Laufe der Zeit eine immer weiterreichende Verbreitung feststellen werden. Das kann man aktuell beispielsweise daran erkennen, dass in vielen Bundesländern an vernetzen OER-Repositorien für den Hochschulbereich gearbeitet wird.
Sicher ist aber, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Offenheit, Transparenz, Kooperation und Partizipation, all dies erfordert einen kulturellen Wandlungsprozess, der Jahre, vermutlich sogar Jahrzehnte dauern wird. Wir müssen also weiter entschlossen voranschreiten. Nachdem wir mit dem Aufbau des notwendigen Know-hows und der notwendigen Infrastruktur begonnen haben, wäre ein sinnvoller nächster Schritt, nun systematisch mit der kooperativen Herstellung von Inhalten zu beginnen.