Auf ein Wort,
Inklusive Bildung in Deutschland umsetzen
Prof. Dr. Klaus Klemm
Ehemaliger Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen
Udo Beckmann
Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung
Die Mitgliederversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission hat 2017 gefordert, Förderschulen und allgemeine Schulen zu einem inklusiven Bildungssystem zusammen zu führen. Was ist hier der Status Quo?
Beckmann: Wir stehen am Anfang dieses Prozesses und die Entwicklung in Richtung einer in der Breite gelebten Inklusion im deutschen Bildungssystem wird sich noch über Jahre erstrecken. Blickt man in die einzelnen Bundesländer, erkennt man, dass diese unterschiedliche Schritte der Erprobung und Umsetzung gegangen sind. Über alle Länder hinweg muss man aber für Deutschland insgesamt feststellen: Die Anfangseuphorie hat sich verflüchtigt, der an Inklusion gerichteten Erwartung ist vielerorts Ernüchterung gewichen. Weder können qualitative Ansprüche noch kann die gewünschte und benötigte Intensität von den meisten Schulen geleistet werden. Hier ist die Politik gefordert, die notwendigen Gelingensbedingungen bereitzustellen, damit das Engagement und die Bereitschaft von Lehrkräften zur inkludierten Bildung nicht durch fehlende Voraussetzungen entkräftet werden. Wunsch und reale Rahmenbedingungen stehen sich noch allzu oft konträr gegenüber.
Klemm: Wer beurteilen will, wie weit Deutschland auf dem Weg hin zu einem inklusiven Schulsystem gekommen ist, der muss darauf sehen, wie sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in Förderschulen unterrichtet werden, an der Gesamtheit der Schülerinnen und Schüler mit und ohne diagnostiziertem sonderpädagogischen Förderbedarf der Jahrgangsstufen 1 bis 10 entwickelt hat. Der Blick auf diese Daten ist entmutigend: 2008/09, dem Schuljahr vor Deutschlands Beitritt zur UN-Behindertenrechtskonvention, wurden 4,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler dieser Jahrgangsstufen separiert, in Förderschulen also, unterrichtet. Bis 2015/16 hat sich dieser Anteil um gerade einmal 0,5 Prozentpunkte auf 4,4 Prozent verringert. Die von der Kultusministerkonferenz und aus den Ministerien zuletzt berichtete ‚Erfolgsmeldung‘, der zu Folge inzwischen 38 Prozent aller Kinder mit diesem Förderbedarf inklusiv unterrichtet werden, beruht schlicht darauf, dass in den letzten Jahren bei Schülerinnen und Schülern, die zuvor in den allgemeinen Schulen als sehr schwach, aber nicht als sonderpädagogisch förderungsbedürftig wahrgenommen wurden, ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wurde.
Warum ist eine Zusammenführung notwendig? Inwieweit profitieren die Lernenden davon?
Klemm: In unserer Gesellschaft leben und arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen. Wo, wenn nicht in den Kindertagesstätten und in den Schulen, soll das Miteinander all dieser Menschen vorbereitet werden?
Beckmann: Bei allen Überlegungen und Entwicklungen muss das zentrale Gebot „zum Wohle des Kindes“ gelten. Das heißt: Es gilt immer individuell zu schauen, was ein Kind braucht, um sich bestmöglich entwickeln zu können. Vor diesem Hintergrund ist Inklusion zu betrachten.
Was sind Erfolgskriterien, damit die Zusammenführung auch gelingt?
Beckmann: Schulen, die inkludiert arbeiten, müssen in umfassende Unterstützungssysteme eingebettet sein. Es braucht hier neben ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern multiprofessionelle Teams, also zusätzlich etwa Schulgesundheitsfachkräfte und sozialpädagogisch geschultes Personal. Des Weiteren muss in allen Phasen der Lehrerausbildung der Umgang mit Heterogenität und Diversität stärker geschult werden. Und drittens bedarf es des klaren Beweises, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in inklusiven Lerngruppen deutlich stärkere soziale, emotionale und kognitive Kompetenzen entwickeln, als wenn sie in einer Förderschule unterrichtet würden.
Klemm: Ob die Zusammenführung in inklusiven Klassen gelingt, bemisst sich nicht zuletzt an den folgenden Kriterien. Erstens: Wie gehen die Schülerinnen und Schüler, die mit und die ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, miteinander um? Respektieren sie sich, helfen sie sich, geht das Miteinander auch über die gemeinsame Zeit im Unterricht hinaus? Eine weitere Leitfrage lautet: Wie verändert sich der Unterricht in inklusiven Lerngruppen? Wird vermehrt auf die individuellen Stärken und Schwächen eingegangen? Und nicht zuletzt: Wie entwickeln sich die kognitiven Lernfortschritte in inklusiven Klassen im Vergleich zu denen in Förderschulen?
Welche Kosten gehen damit einher?
Klemm: Ein inklusives Schulsystem verursacht ganz fraglos zusätzliche Ausgaben: In inklusiven Klassen arbeiten Lehrkräfte der allgemeinen Schulen mit Sonderpädagogen zusammen, zum Teil auch so, dass sie im Unterricht gemeinsam präsent sind. Lehrkräfte müssen auf die für sie neue Aufgabe vorbereitet werden. Kinder und Jugendliche mit einem sonderpädagogischem Förderbedarf benötigen – je nach Förderschwerpunkt unterschiedlich stark – zusätzliche Unterstützung durch Integrationshelfer. Inklusiv arbeitende Schulen brauchen auch zusätzliche Räume für die Arbeit in Kleingruppen, sie benötigen in Abhängigkeit von den Förderschwerpunkten ihrer Schülerinnen und Schüler besonders ausgestattete Sanitärbereiche, sie müssen barrierefrei sein. All dies erhöht die Bildungsausgaben – insbesondere dann, wenn Länder sich dazu entscheiden, für alle Förderschwerpunkte dauerhaft ein Parallelsystem von Förderschulen und inklusiv arbeitenden Schulen vorzuhalten.
Beckmann: Auch die Politik hat inzwischen begriffen, dass Inklusion kein Sparmodell ist, sondern erheblicher zusätzlicher Investitionen bedarf. In personeller, sächlicher und räumlicher Hinsicht.
Gibt es Beispiele, wo die Zusammenführung von Förderschulen und allgemeinen Schulen schon funktioniert?
Klemm: Zum einen kann darauf verwiesen werden, dass die seit 2009 ausgewählten
Preisträger-Schulen des Jakob Muth-Preises ganz fraglos Inklusion beispielhaft umsetzen. Es kann aber auch darauf hingewiesen werden, dass einzelne Bundesländer den Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf, die separiert von ihren Gleichaltrigen zur Schule gehen, deutlich zurückführen konnten: Im Stadtstaat Bremen sind dies nur noch 1,1 Prozent, im Flächenland Schleswig-Holstein nur noch 2,2 Prozent, im benachbarten Mecklenburg-Vorpommern dagegen 6,5 Prozent. Es bieten also einzelne Schulen und auch einzelne Länder Anschauungsmaterial für gelingende Inklusion.
Beckmann: Es gibt bisher kein Bundesland, welches man diesbezüglich hervorheben kann. Aber es gibt einzelne Schulen, die besondere Konzepte entwickelt haben und dies mit viel Engagement und auch Erfolg praktische Inklusion erproben. Von diesen Schulen kann man lernen, deren individuelle Konzepte aber in der Regel nicht einfach kopieren.