Auf ein Wort,
„Herausforderungen und Perspektiven der Umsetzung inklusiver Bildung auf kommunaler Ebene“
Pit Clausen
Oberbürgermeister von Bielefeld
Ute Erdsiek-Rave, Ministerin a.D.
Vorsitzende des DUK-Expertenkreises „Inklusive Bildung“
Bei der Umsetzung von inklusiver Bildung kommt den Kommunen eine besondere Rolle zu. Gefordert sind dabei alle – die Familien, die Nachbarn, Kindergärten und Schulen, Universitäten, Unternehmen, die Gemeinde mit ihren Einrichtungen, zivilgesellschaftliche Vertreter, die sozialen Dienste. Nicht mehr einzelne Alleskönner sind gefragt, sondern unterschiedliche Akteure und verschiedene Professionen in tragfähigen, kooperativ arbeitenden Netzwerken. Fachverwaltungen, Planungsressorts und die Kommunalpolitik agieren Seite an Seite mit Akteuren der offenen Jugendhilfe, Verbänden und Jugendvereinen, in formalen Bildungskontexten und Familien, in Sport- und Kulturvereinen.
Erfolgskriterien für die Umsetzung inklusiver Bildung hat die Deutsche UNESCO-Kommission mit den Leitlinien für eine inklusive Bildungspolitik vorgestellt. Im Jahr 2017 wird der DUK-Expertenkreis „Inklusive Bildung“ auf der Grundlage dieser Erfolgskriterien die Stadt Bielefeld zur Umsetzung inklusiver Bildung beraten. Welchen Herausforderungen die Stadt begegnet und wie diese gelöst werden können, erläutern der Oberbürgermeister von Bielefeld Pit Clausen und die Vorsitzende des DUK-Expertenkreises „Inklusive Bildung“ Ute Erdsiek-Rave, Ministerin a.D., im Interview.
Inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung ist das in der Globalen Nachhaltigkeitsagenda verankerte Ziel, welches bis zum Jahr 2030 erreicht werden soll. Wie steht es um die inklusive Bildung in Deutschland?
Erdsiek-Rave: In den sieben Jahren seit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat sich viel getan in Deutschland. Dennoch hinken wir insgesamt noch stark hinter dem europäischen Durchschnitt her. Noch werden bei uns zwei Drittel aller Kinder mit Förderbedarf gesondert beschult. Im europäischen Durchschnitt ist es nur ein Viertel. Zugleich ist die Bandbreite in Deutschland groß. Bundesländer mit einer langen Tradition bei der Integration sind jetzt bereits weit vorangeschritten, während in anderen Ländern die Entwicklung noch sehr langsam verläuft. Die Anforderungen der UN-Konvention werden erst in wenigen Bundesländern umfassend umgesetzt. Dies wird auch im aktuellen Bericht des zuständigen UN-Fachausschusses belegt. Gewiss braucht es Zeit, Ressourcen und klare Ziele, um ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln – wir sollten uns aber nicht bis 2030 Zeit nehmen.
Clausen: Auch aus meiner Sicht sind wir in Deutschland auf einem guten Weg, haben aber das Ziel eines inklusiven Bildungsangebotes für alle noch lange nicht erreicht. In Bielefeld sind wir relativ gut aufgestellt, weil wir als große Stadt die Angebote in verschiedenen Standorten differenzieren können. Vor allem haben wir rechtzeitig begonnen: Bereits Jahre vor der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in nationales Recht haben wir in der Hälfte aller Kindertageseinrichtungen, in mehreren Grundschulen und auch einzelnen weiterführenden Schulen Kinder mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam betreut beziehungsweise unterrichtet und damit sehr gute Erfahrungen gesammelt. Seit 2013 werden die Kinder regelmäßig an den allgemeinbildenden Schulen gemeinsam im Klassenverband oder in der Lerngruppe unterrichtet. Nur wenn die Eltern ausdrücklich eine Förderschule wählen, besuchen die Kinder in Bielefeld keine inklusive allgemeinbildende Schule.
Welche Verantwortung kommt den Kommunen bei der Umsetzung inklusiver Bildung zu?
Erdsiek-Rave: Die Kommunen sind als Schulträger, Jugend- und Sozialhilfeträger mit den Ländern in gemeinsamer Verantwortung für Bildung und Erziehung. Sie kennen am besten die Lebensverhältnisse der Kinder und Familien und haben eine enge Beziehung zu ihren Schulen. Zusammenführen, vernetzen, die Schulen gut ausstatten, Nachmittagsangebote inklusiv weiterentwickeln – das sehe ich als die wichtigsten Aufgaben an. Der Streit um die Ressourcen muss ausgetragen werden, aber die betroffenen Kinder dürfen dabei nicht aus dem Blick verloren werden. „It takes a village to raise a child“ – dieses schöne Sprichwort fasst eigentlich alles zusammen.
Clausen: Wir müssen die Kapazitäten inklusiver Bildungsangebote bedarfsgerecht entwickeln. In den letzten Jahren ist die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die einen Platz in einer inklusiven Kindertagesstätte oder inklusiven allgemeinbildenden Schule suchen, stark gestiegen. Deshalb haben wir als Schulträger in 19 von 45 Grundschulen, aber insbesondere auch in allen 9 Realschulen, 4 von 7 Gymnasien und 3 von 4 Gesamtschulen in Zusammenarbeit mit dem Land zusätzliche Plätze zur integrativen Beschulung geschaffen. Diese Zunahme gilt auch für die Kindertageseinrichtungen.
Oberbürgermeister Clausen, welche Herausforderungen gibt es bei der Umsetzung inklusiver Bildung in Bielefeld?
Clausen: Inklusive Bildung benötigt Voraussetzungen in den Kindertageseinrichtungen, Schulen und Ausbildungsbetrieben. Dazu gehören barrierefreie Gebäude, inklusive Bildungskonzepte und Fachkräfte, die dies umsetzen. Dabei denke ich nicht nur an Lehrer, wir benötigen multiprofessionelle Teams mit Lehrern, Sozialarbeitern und Psychologen. Dies kostet natürlich viel Geld. Wir haben trotz der schwierigen Haushaltsbedingungen der Stadt Bielefeld die Haushaltsmittel seit 2013 erheblich aufgestockt und nutzen auch die Angebote des Landes NRW für unsere Entwicklungsmaßnahmen vor Ort. Wir sind auf einem guten Weg, aber es wird noch Jahre dauern, bis wir unseren Anspruch auf zielgerichtete inklusive Bildungsangebote für alle einlösen können.
Welche Entwicklungsperspektive besteht für die Förderschulen in Bielefeld beim weiteren Weg hin zu inklusiven Bildungsangeboten?
Clausen: Förderschulen können mit ihrer Expertise beraten und Hilfestellungen für gute inklusive Bildung bieten. Wir haben in Bielefeld an einer Förderschule seit sieben Jahren eine Schulstation eingerichtet, die Schülerinnen und Schüler aller Bielefelder Schulen und ihre Familien unterstützt, die sich aufgrund psychischer Belastungen dem Schulalltag nicht gewachsen fühlen. Hier wird durch Förderprogramme mit Lernangeboten, praktische Tätigkeiten und Bewegungsangebote eine wirkungsvolle Unterstützung geboten. Es geht darum, in kritischen Situationen Hilfe für den Besuch der allgemeinbildenden Schulen zu bieten. Dieses Angebot wird in Bielefeld gut angenommen.
Frau Erdsiek-Rave, es wird deutlich, dass noch zahlreiche Hürden überwunden werden müssen, bis Inklusion im deutschen Bildungssystem eine Realität ist. Gibt es aus Ihrer Sicht übertragbare Erfolgskriterien, die bei der Umsetzung helfen können?
Erdsiek-Rave: Ein planvolles und schrittweises Vorgehen, getragen von einer entschiedenen Haltung, das sind die entscheidenden Voraussetzungen für das Gelingen – auf der Landesebene genauso wie in der Kommune und der einzelnen Schule. Unsere UNESCO-Leitlinien für eine inklusive Bildungspolitik* sind dabei auf jeder Ebene hilfreich. Sie sollen aber nicht als Blaupause verstanden werden – jede Schule, jede Kommune kann sie auf ihre Weise adaptieren. Natürlich muss auch immer mit Ängsten und Vorurteilen gerechnet werden. Ihnen begegnet man am besten mit guten Beispielen aus der Praxis, aber auch mit Aufklärung, Weiterbildung und Unterstützung der Lehrkräfte.
Oberbürgermeister Clausen, wie viele andere Kommunen hat auch Bielefeld in den letzten Jahren deutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen als in den Jahrzehnten zuvor. Von inklusiven Bildungsangeboten würden auch sie profitieren. Wie werden Flüchtlingskinder in das Bildungssystem in Bielefeld integriert?
Clausen: In Bielefeld wurden und werden die geflüchteten und neuzugewanderten Kinder und Jugendliche so schnell wie möglich eingeschult. Dies gilt für alle Altersstufen. Deshalb sorgen wir mit großen Anstrengungen auch weiterhin für zusätzliche Schulplätze, weil wir hohe Zuzugszahlen aus dem Ausland haben. Unser Ziel ist es, die Schülerinnen und Schüler je nach Lernfortschritt in Regelklassen ihrer Altersstufen unterzubringen. Das gelingt uns aufgrund der hohen Zuzugszahlen und noch fehlender Sprachkenntnisse, um dem Unterricht folgen zu können, nicht durchgängig. Wir haben deshalb insbesondere in der Sekundarstufe I und II für die Jahrgänge ab Klasse 5 Internationale Klassen eingerichtet. In kleinen Lerngruppen erfolgt auch Sprachförderung, um die notwendigen Deutschkenntnisse zu erlangen. In den Grundschulen ist es überwiegend möglich, die neuzugewanderten Schülerinnen und Schüler direkt in Regelklassen aufzunehmen, weil der Spracherwerb für den Unterricht in diesen Altersgruppen sehr schnell erfolgt.
Welche Rahmenbedingungen müssen sich ändern, damit Kommunen in Zukunft inklusive Bildung hochwertig umsetzen können?
Clausen: In der Bildungsregion Bielefeld wollen wir Bildungsgerechtigkeit und ein ganzheitliches Verständnis von Bildung fördern und die Qualifikationsbedarfe decken. Dazu gehört als wesentlicher Erfolgsfaktor, die Voraussetzungen für inklusive Bildung weiter zu entwickeln. Inklusion heißt, niemanden an der Teilhabe an der Gesellschaft zu behindern. Wir müssen lernen, vom Kind aus zu denken, und überlegen, welche Unterstützung braucht es für eine gelingende Entwicklung. Da, wo noch Ausgrenzung passiert, muss aktiv gegengesteuert werden.
Die Analyse der Ausgangslage, der Austausch aller Bildungsakteure mit dem Ziel, inklusive Bildung für alle Lebensbereiche zu schaffen, und die Steuerung der Prozesse sind notwendig. Dafür brauchen wir engagierte und kompetente Menschen und geeignete Räume. Und damit sind wir natürlich auch bei der Ressourcenfrage, wir brauchen Fachlichkeit und Geld. Da sind auch der Bund und das Land gefordert. Wir werden in Bielefeld im März 2017 eine gemeinsame Veranstaltung mit den Experten der Deutschen UNESCO-Kommission zu inklusiver Bildung durchführen. Ich erhoffe mir daraus neue Impulse für den Inklusionsprozess in Bielefeld. Das ist sicherlich ein wichtiger Baustein.
Erdsiek-Rave: Da kann ich mich anschließen. Ich will aber auch noch einmal betonen: Gute finanzielle und personelle Rahmenbedingungen sind wichtig, aber sie reichen nicht aus. Erst wenn Vernetzung, Dialog und eine strukturierte regelmäßige und selbstverständliche Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten auf jeder Ebene dazu kommen, kann die Entwicklung zu einem inklusiven Bildungssystem gelingen. Die Voraussetzung dafür ist ein gemeinsames Verständnis von Inklusion: keine neue Reform, sondern das Leitprinzip für eine Schule, eine Kommune, ein Gemeinwesen, in dem alle aufgehoben sind, die besondere Unterstützung brauchen – wegen einer Behinderung, einer schwierigen sozialen Lage, einer anderen Herkunft, Kultur oder Religion.
Pit Clausen...
...ist seit 2009 Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld, seit 2016 zudem Vorsitzender des Städtetages Nordrhein-Westfalen. Zuvor war Clausen als Richter an verschiedenen Arbeitsgerichten in Nordrhein-Westfalen tätig. Er hat Rechtswissenschaften an der Universität Bielefeld studiert.
Ute Erdsiek-Rave...
...ist die Vorsitzende des Expertenkreises „Inklusive Bildung“ der Deutschen UNESCO-Kommission. Von 2005 bis 2009 war sie Ministerin für Bildung und Frauen sowie stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein. Zuvor hatte sie zahlreiche politische Ämter inne. Nach ihrem Studium der Germanistik arbeitete sie in der Erwachsenenbildung an Volkshochschulen und am Goethe-Institut Stockholm, bevor sie ihren Lehrerberuf aufnahm.
*UNESCO-Leitlinien für eine inklusive Bildungspolitik...
Die Deutsche UNESCO-Kommission hat 2014 eine deutsche Neuauflage der UNESCO-Publikation Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik herausgegeben. Die Publikation beschreibt das Konzept inklusiver Bildung, informiert über relevante internationale Verträge und enthält Empfehlungen zur Umsetzung in Deutschland.